125 Jahre ABB in Deutschland: Vom visionären Schweizer Start-Up zum globalen Technologieführer

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Intro

Zürich im Jahr 1890: In einem Büro sitzen zwei Männer über technische Zeichnungen gebeugt. Charles Eugene Lancelot Brown, ein junger Ingenieur mit geschickten Händen, erklärt seinem Partner seine neuesten Ideen: Ganze Städte könnten künftig mit Strom versorgt werden! Für ihn steht fest: Die Zukunft liegt in der Elektrizität. Sein Gegenüber, Walter Boveri, hört aufmerksam zu. Ihm ist klar, Browns Ideen sind brillant. Doch sie brauchen mehr als Visionen – sie brauchen Kapital, Kontakte und einen Plan.

Als sie im Dezember desselben Jahres ihren Vertrag unterzeichnen und die Firma Brown, Boveri & Cie (BBC) entsteht, ahnen sie nicht, dass ihr Unternehmen die Welt der Elektrotechnik revolutionieren wird. Damals in der Schweiz begann die Geschichte von ABB: Heute feiert das Unternehmen 125 Jahre in Deutschland. In der Zeit dazwischen ist eine Menge passiert – Zeit also, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen. Wir nehmen dich in unserer mehrteiligen Serie „125 Jahre ABB in Deutschland“ mit auf eine Zeitreise.

Der steinige Weg zur Gründung der BBC

Der Weg zur Firmengründung war dabei nicht leicht: Brown, damals Direktor der technischen Abteilung der Maschinenfabrik Oerlikon, und Boveri, Leiter der Montageabteilung im selben Unternehmen, fehlte es vor allem an einem: Geld. Die Suche nach Kapitalgebern blieb zunächst ohne Erfolg. Erst als sich Walter Boveri 1890 mit seiner Frau Victoire Baumann verlobt, erhält er von seinem Schwiegervater, einem Seidenindustriellen, ein großzügiges Darlehen. Damit war das Startkapital gegeben und die Firma Brown, Boveri & Cie – kurz: BBC – konnte im schweizerischen Baden an den Start gehen.

Brown, Boveri & Cie in Baden: Eingang der BBC um 1900.

Es dauerte nicht lange, bis sich BBC als Pionier in der Elektrotechnik etablierte. 1897 entwickelte BBC den ersten Hochspannungs-Ölschalter. Damit war die Grundlage für die Kompetenz von ABB im Bereich Schaltanlagen und Unterstationen gelegt. 1899 wurde der erste Meilenstein erreicht: Die erste elektrische Lokomotive Europas befuhr die Schienen, angetrieben von zwei BBC-Motoren – der Beginn einer neuen Ära auf dem Gebiet des Bahnstroms. Die Umwandlung der BBC in eine Aktiengesellschaft im Jahr 1900 markierte den Beginn der internationalen Expansion – und den Beginn der mittlerweile 125-jährigen Erfolgsgeschichte in Deutschland.

Startschuss für den Standort Mannheim

Die Stadt Mannheim hatte von der Expertise der Schweizer in Sachen Elektrifizierung gehört und bei BBC ein Kraftwerk geordert. Doch es gab einige Auflagen. BBC musste sich verpflichten, in der Quadratestadt eine Fabrik zu eröffnen und darüber hinaus seine deutsche Hauptverwaltung nach Mannheim verlegen. Und so kam es: Am 15. Juni 1900 wurde das Werk in Mannheim-Käfertal eröffnet und startete mit 400 Mitarbeitenden.

Neben dem schweizerischen Baden entwickelte sich Mannheim-Käfertal zu einem wichtigen Standort für BBC – und der Rest ist (Industrie-) Geschichte. Damit begann die Zeit von ABB in Deutschland.

Brown und Boveri – zwei Seiten einer Medaille

Den beiden Firmengründern gelang es, sich einander mit ihren unterschiedlichen Stärken und Fähigkeiten zu ergänzen und so das Unternehmen gemeinsam voranzubringen. Boveri erkannte früh die Bedeutung langfristiger Aufträge und beteiligte sich an der Gründung zahlreicher Elektrizitätsunternehmen. Brown hingegen sicherte für BBC wichtige Patente und legte mit dem Bau der weltweit ersten thermoelektrischen Lokomotive den Grundstein für die elektrische Traktion. Er kümmerte sich in erster Linie um die technischen Belange des Unternehmens und forschte an neuen Entwicklungen. Walter Boveri, obwohl ebenfalls technisch begabt, wuchs mit der Zeit immer mehr in die Rolle des visionären kaufmännischen Leiters des Unternehmens hinein. Wer waren die beiden Männer, die das Zeitalter der Elektrotechnik so entscheidend prägten und mit ihrem visionären Blick die Zukunft ins Auge fassten?

Pionier der Elektrotechnik

Charles E.L. Brown bekam seine technische Begabung schon mit in die Wiege gelegt. Sein Vater, Charles Brown, war ein begnadeter englischer Maschinenkonstrukteur, der von der Firma Sulzer in die Schweiz geholt worden war. Als ältestes von sechs Kindern wurde Charles E.L. Brown am 17. Juni 1863 in Winterthur geboren.

Schnell zeigte sich sein Talent: Mit 19 Jahren schließt er sein Diplom in Maschinentechnik ab und steigt mit seinem Vater bei der Maschinenfabrik Oerlikon ein. Nur zwei Jahre später wird Brown Leiter der elektrischen Abteilung. Bereits dort macht er von sich reden: In Zusammenarbeit mit AEG erzielt er mit der erfolgreichen Stromübertragung von Lauffen nach Frankfurt den Durchbruch in der Wechselstromtechnik.

Charles Eugene Lancelot Brown um 1900.

„Ich hätte alles werden können – Musiker, Bildhauer, Maler, ich wäre immer ein großer Mann geworden.“

Charles E.L. Brown, Gründer der BBC

Brown ist ein Pionier, überzeugt von den unendlichen Möglichkeiten der Elektrotechnik – und doch mehr als das: Er ist interessiert an den schönen Künsten, neugierig und exzentrisch. Jeden Morgen besteigt Brown sein Hochrad und fährt mit ihm in die Firma. Auf diesem Hochrad übt er Kunstfahren, und zwar öffentlich, auf dem Schulhausplatz der Stadt. Brown ist fasziniert von allem, was sich bewegt, von Autos und von den frühen Flugzeugen. 1887 heiratet er seine Frau Amelie, sie bekommen vier Kinder. Als sie stirbt, heiratet er 1916 erneut: Mit Hilda Goldschmidt hat er zwei weitere Kinder.

Der visionäre Geschäftsmann

Walter Boveri wird 1865 als dritter von vier Söhnen des Arztes Theodor Boveri in Bamberg geboren. Mit 20 Jahren schließt er die königliche Maschinenbauschule in Nürnberg ab und zieht daraufhin als Maschinentechniker in die Schweiz.

Tagsüber arbeitet er als Montageleiter für elektrische Anlagen bei der Maschinenfabrik Oerlikon in Zürich, abends plant er die Gründung der Firma mit Charles E.L. Brown.

Zusammen träumen sie von der Elektrifizierung der Zukunft. Doch Träume allein reichen nicht. Boveri bewies früh sein Geschick als Netzwerker: Seine Verlobung mit Victoire Baumann, der Tochter eines einflussreichen Zürcher Industriellen, öffnete nicht nur Türen in der Gesellschaft, sondern auch den Weg zu dringend benötigtem Kapital.

Walter Boveri um 1900.

„Wo Charles Brown die konstruktive Entwicklung der einzelnen Maschinen vor seinem geistigen Auge erstehen sah, da erblickte mein Vater die Möglichkeiten ihrer Anwendung im Dienste der menschlichen Gesellschaft.“

Walter Boveri junior, Firmenchef der BBC

Boveri zeichnet sich durch seinen scharfen Geschäftssinn und seine Fähigkeit aus, Chancen zu erkennen und zu nutzen. Mit seinem Weitblick sicherte er der BBC langfristige Aufträge und trug so maßgeblich zum Wachstum des Unternehmens bei: Er legte den Grundstein für ein Imperium und sorgte dafür, dass BBC zu einem internationalen Großkonzern heranwuchs. Boveris Söhne, Theodor und Walter jun., stiegen später ebenfalls bei BBC ein und prägten das Unternehmen.

1911 verlässt Charles E. L. Brown die BBC. Es gibt noch so viel zu entdecken außerhalb der Fabrikwände und er macht sich auf zu einer Weltreise. Nach Browns Rückzug ins Privatleben wird Boveri Verwaltungsratspräsident der BBC. 1924 sterben die beiden Firmengründer kurz nacheinander. Ihre Erfindungen brachten die Industriegeschichte entscheidend voran und sie hinterlassen ein Unternehmen, das noch hundert Jahre später von sich reden macht.

Die Geschichte am deutschen Standort Mannheim-Käfertal wurde indes weitergeschrieben. In der Zeit nach 1900 gab es kaum eine Stadt, in der nicht Generatoren aus Mannheim für die Stromerzeugung sorgten. Rund 100 Jahre nach der Gründung erfolgte eine Zäsur: Am 10. August 1987 verkündeten BBC und der schwedische Konzern ASEA ihren Zusammenschluss zum neuen Konzern ABB. Damit begann ein neues Kapitel: Der Zusammenschluss eröffnete neue Chancen und bot Raum für zahlreiche Innovationen, die heute die Industrie und deren digitale Transformation prägen.