Digitaler Zwilling: Wie virtuelle Klone unsere Industrie erobern

Ein digitaler Zwilling einer Industriemaschine
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Intro

Laut Platons berühmten Höhlengleichnis befinden wir uns in einer zweigeteilten Welt: Einer materiellen Welt, die wir mit unseren Sinnen erleben können (Sinnenwelt). Und einer abstrakten Welt der Ideen, die jenseits unserer sinnlichen Erfahrung liegt und nur dem Geist zugänglich ist (Ideenwelt). Zugegeben, das philosophische Konstrukt aus dem vierten Jahrhundert vor Christus klingt sehr weit weg von der Welt des 21. Jahrhunderts. Doch bei näherer Betrachtung ist die Idee der zweigeteilten Welt präsenter, als wir denken. Denn digitale Zwillinge, die in der Industrie zum Einsatz kommen, sind eine Brücke zwischen der realen Welt und deren digitaler Spiegelung

Wie entstanden digitale Zwillinge? Die Evolution der digitalen Doppelgänger

Die Wurzeln der digitalen Zwillinge gehen in die 1960er Jahre zurück. So stammt die Idee des “Digital Twin” ursprünglich von der NASA, ohne jedoch den Begriff zu verwenden. Die Raumfahrtbehörde nutzte Modelle, um eine vollständige Replikation der Raumkapseln zu erstellen. Diese Nachbildungen wurden am Boden eingesetzt, um Probleme im Orbit zu spiegeln und zu diagnostizieren. Als Schöpfer des Begriffs gilt Dr. Michael Grieves von der University of Michigan. Er führte den Begriff „Digital Twin“ im Jahr 2002 ein. 

Inzwischen wird der Ausdruck in verschiedenen Ausformungen verwendet. Eine einheitliche Definition sucht man vergebens, doch wird die folgende Definition der Gesellschaft für Informatik häufig zitiert: 

„Digitale Zwillinge sind digitale Repräsentanzen von Dingen aus der realen Welt. Sie beschreiben sowohl physische Objekte als auch nicht-physische Dinge wie zum Beispiel Dienste, indem sie alle relevanten Informationen und Dienste mittels einer einheitlichen Schnittstelle zur Verfügung stellen. Für den digitalen Zwilling ist es dabei unerheblich, ob das Gegenstück in der realen Welt schon existiert oder erst existieren wird.“

Gesellschaft für Informatik

Das Prinzip klingt einfach: Der digitale Zwilling verbindet physische Industrieprodukte mit der digitalen Welt. Doch ist der Erfolg des Konzepts erst durch den Siegeszug von drei weiteren IT-Megatrends möglich geworden: Dem schnellen Internet, einer exponentiell gesteigerten Cloud-Infrastruktur mit entsprechender Rechenleistung sowie der Vernetzung von Industriemaschinen im Zuge des Internets der Dinge (IoT) und der damit entstandenen Industrie 4.0.  

Durch die Kombination von performanterer Hardware, einer Highspeed-Infrastruktur und die Integration von Sensoren in physische Objekte und Systeme ist es möglich, die enorme Menge an Echtzeitdaten über Zustand, Leistung und Umgebungseinflüsse über den gesamten Lebenszyklus zu erfassen und zu verarbeiten. 

„Digitale Zwillinge verändern unsere Industrie- und Produktionslandschaft maßgeblich. Sie begleiten Geräte, Anlagen und Engineering-Assets über die Phasen des Lebenszyklus hinweg und entlang der Wertschöpfungskette zwischen den Unternehmen. Seit Jahren arbeiten wir in der Industrial Digital Twin Association (IDTA) an einem interoperablen Datenformat und einer maschinenlesbaren Semantik für digitale Zwillinge, die eine Vielzahl von Anwendungsfällen und Industriekollaborationen ermöglicht. Mit der Kraft, komplexe Systeme in Echtzeit zu spiegeln und zukünftige Szenarien vorauszusagen, sind digitale Zwillinge das Herzstück einer neuen Ära der Effizienz, Flexibilität und Innovation, die die Grenzen dessen, was in der Industrie möglich ist, neu definiert."

Dr.-Ing. Sten Grüner, Prinicipal Scientist, ABB AG Forschungszentrum Deutschland

Für das Konzept des digitalen Zwillings ist es unerheblich, ob der physische Zwilling – das Produkt, die Anlage oder der Prozess – bereits in der realen Welt existiert oder erst in der Planung ist. Selbst wenn beispielsweise eine Produktionsanlage noch in der Planungsphase ist, kann bereits ein digitaler Zwilling existieren, der die grundlegenden Merkmale dieser Anlage abbildet. Genauso kann ein Werkstück, dessen Fertigung gerade erst begonnen hat, schon einen digitalen Zwilling besitzen. Dieser digitale Zwilling enthält nicht nur die aktuellen Eigenschaften des Werkstücks, sondern auch alle Eigenschaften, die es zum Zeitpunkt seiner Fertigstellung haben wird. 

Digitaler Zwilling – ein Wachstumsmarkt

Prozent
Das jährliche Wachstum im Bereich der digitalen Zwillinge.
Milliarden US$
Das Marktvolumen der digitalen Zwillinge laut Grand View Research.

Wie funktionieren digitale Zwillinge?

Die Funktionsweise von digitalen Zwillingen beruht auf einer Kombination aus Datenintegration, Modellierung, Echtzeitüberwachung sowie Analyse und Optimierung:

1Datenerfassung: Die Erfassung von Daten ist ein wesentlicher Schritt bei der Erstellung eines digitalen Zwillings. Hierbei werden verschiedene Sensoren und IoT-Konnektoren eingesetzt, um Daten über den realen Gegenstand oder das System zu sammeln. Dies können zum Beispiel Daten über Zustand, Leistung, Umgebungseinflüsse, Verhaltensmuster und andere relevante Parameter sein.
2Datenintegration: Die gesammelten Daten werden in einer zentralen Datenplattform oder einem Datenmodell zusammengeführt und integriert. Dies ermöglicht eine ganzheitliche Sicht auf den digitalen Zwilling und erleichtert die Analyse und Visualisierung der Daten.
3Modellierung und Simulation: Basierend auf den gesammelten Daten wird ein virtuelles Modell des realen Objekts oder Systems erstellt. Dieses Modell kann eine detaillierte geometrische Darstellung, physikalische Eigenschaften, Verhaltensmuster, Regeln und andere Merkmale enthalten. Mit Hilfe dieses Modells können Simulationen und Analysen durchgeführt werden, um das Verhalten des digitalen Zwillings unter verschiedenen Bedingungen zu untersuchen.
4Echtzeit-Überwachung und Aktualisierung: Der digitale Zwilling wird kontinuierlich mit Echtzeitdaten aus dem realen Objekt oder System aktualisiert. Dies ermöglicht eine fortlaufende Überwachung des Zustands und der Leistung des realen Gegenstands. Abweichungen zwischen dem digitalen Zwilling und dem realen Gegenstand können erkannt werden, um frühzeitig auf Probleme oder potenzielle Störungen hinzuweisen.
5Analyse und Optimierung: Durch die Analyse der Daten aus dem digitalen Zwilling können Muster, Trends und Zusammenhänge identifiziert werden. Dies ermöglicht es, Optimierungen vorzunehmen, Schwachstellen zu erkennen, vorausschauende Wartung durchzuführen und Entscheidungen auf der Grundlage fundierter Informationen zu treffen.
Grafik, die das Zusammenspiel einer Industrieanlage mit einem digitalem Zwilling veranschaulicht.

Die Industrie erwartet sich durch den Einsatz von digitalen Zwillingen einen betriebswirtschaftlichen Vorteil. Dieser kann aus kürzeren Entwicklungszeiten, Steigerung der Qualität oder Minimierung von Risiken bestehen. Die Anwendungsfelder sind sehr weit, doch typische Bereiche für den industriellen Einsatz sind:

Planung und Simulation von Prozessen und Industrieanlagen: Die Erstellung eines digitalen Zwillings in der Planungs- oder Entwicklungsphase ermöglicht es, verschiedene Szenarien zu simulieren oder potenzielle Risiken bzw. Flaschenhälse bei industriellen Anlagen oder Produktionslinien bereits im virtuellen Betrieb zu erkennen.  

Verbesserte Produktentwicklung: Ein naheliegender Einsatz digitaler Zwillinge ist, Produkte virtuell zu entwickeln, zu testen und zu optimieren. Dies beschleunigt den Innovations- und Entwicklungsprozess und spart Kosten, da die Herstellung physischer Modelle und Prototypen entfällt. Da die Entwicklung virtueller Zwillinge zeit- und kostenaufwändig ist, muss das zu entwickelnde Produkt eine gewisse Komplexität haben. 

Echtzeitüberwachung und -optimierung: Durch die Verknüpfung von physischen Anlagen mit ihren digitalen Zwillingen können Unternehmen den Zustand und die Leistung der Anlagen in Echtzeit überwachen. Dadurch werden potenzielle Ausfälle oder Engpässe frühzeitig erkannt. 

Predictive Maintenance: Die Echtzeitüberwachung bzw. die Analyse der generierten Daten schafft zudem die Basis für vorausschauende Wartung. Dies reduziert ungeplante Ausfallzeiten und optimiert die Instandhaltungskosten. 

Optimierung von Ressourcen: Digitale Zwillinge ermöglichen es Unternehmen, den Energie- und Materialverbrauch zu analysieren und zu optimieren, um ressourceneffizienter zu arbeiten und die Umweltauswirkungen zu reduzieren. 

Schulung und Training: Digitale Zwillinge bieten eine realitätsnahe Umgebung für Schulungs- und Trainingszwecke. Mitarbeitende können komplexe Abläufe oder Anlagen interaktiv erlernen, was die Qualifikation und die Sicherheit am Arbeitsplatz verbessert

Digitaler Zwilling als Inspiration für die Kunst

Das Konzept des digitalen Zwillings dient auch als Inspiration für Kunstschaffende. So ist die Idee einer vernetzten Welt und eines digitalen Paralleluniversums ein beliebtes Muster in der ScienceFictionLiteratur. „Neuromancer” von William Gibson ist ein Science-Fiction-Klassiker aus den 1980er Jahren. Gibson stellt eine dystopische Zukunft vor, in der künstliche Intelligenzen und virtuelle Realitäten eine zentrale Rolle spielen. Der Protagonist Case wird von einer künstlichen Intelligenz namens Dixie Flatline unterstützt, die als digitales Abbild eines verstorbenen Computerhackers existiert.

Ein neueres Beispiel ist „Der Zwillingscode“ von Margit Ruile, ein Thriller über KI und das Internet der Dinge. Die gebürtige Augsburgerin legt die Handlung in eine Welt, in der digitale Zwillinge Maschinen und Alltagsgegenstände miteinander vernetzen. Doch nicht nur in der Fiktion, sondern auch in der sogenannten E-Culture spielen digitale Zwillinge eine Rolle. Während des Lockdowns haben Wissenschaftler und Techniker der Universität Stuttgart ein virtuelles Modell des Theaters im Residenzschloss Ludwigsburg erstellt. Das Team hat das Schlosstheater aus dem 18. Jahrhundert mithilfe eines 3D-Scanners millimetergenau digital erfasst. Das Ziel war es, einen digitalen Zwilling des Theaters zu erstellen, der in virtueller und erweiterter Realität erlebt werden kann. Das Modell ermöglicht es, Theaterstücke aus der Zeit von Herzog Carl Eugen oder König Friedrich auf der Bühne nachzuerleben. Zudem wird der Blick hinter die Bühne und die Kulissen ermöglicht, sodass die historische Bühnenmaschinerie im Modell bedient und bewegt werden können

Vom digitalen Zwilling zum Industrial Metaverse

Ein Buzzword kommt selten alleine. Obwohl der Einsatz von digitalen Zwillingen noch am Anfang einer langen Entwicklung ist, wird bereits über eine Weiterentwicklung des Konzepts nachgedacht: Das Industrial Metaverse nutzt das Konzept des digitalen Zwillings und Anwendungen wie XR (Extended Reality), um eine immersive, vernetzte Umgebung zu schaffen. Diese virtuelle Ebene überlagert die bestehenden Unternehmensstrukturen und ermöglicht eine Echtzeit-Zusammenarbeit zwischen Teams. Die Mitarbeitenden können auf aktuelle Betriebsdaten zugreifen und sich in einer 3D-Betriebsumgebung austauschen, ohne spezielle VR- oder AR-Ausrüstung zu benötigen. Unternehmen sollen unter anderem von nachhaltigeren Prozessen und verringerten CO2-Emissionen durch reduzierte Geschäftsreisen profitieren. Die schnellen, ressourcenschonenden Entscheidungen und die erhöhte Sicherheit in den Anlagen tragen zu den jeweiligen Nachhaltigkeitszielen bei. Zudem eröffnen sich vielfältige Möglichkeiten für innovative Konstruktionen und automatisierte Anlagen.