„Ich arbeite am Herzschlag von Industrieanlagen“

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Intro

Dr. Martin Hoffmann ist in seiner Promotion am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) der Frage nachgegangen, wie Computermodelle des menschlichen Herzens aus der Grundlagenforschung in die klinische Praxis übertragen werden können. Heute arbeitet der Elektroingenieur als Research Team Manager Industrial AI in einem von sieben internationalen Forschungszentren der ABB, genauer gesagt im Corporate Research Center (CRC) in Mannheim. Was ihn aus der Medizintechnik zu ABB führte, wie ihm im Bereich Künstliche Intelligenz (KI) der Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Praxis gelingt und was ihn antreibt, hat er unserem Redaktionsteam verraten.

Herr Dr. Hoffmann, Sie sind promovierter Biomedizintechniker. ABB macht vieles, aber keine medizinischen Produkte. Wie kam es, dass Sie bei ABB gelandet sind? 

Klingt in der Tat etwas kurios. Um die Frage zu beantworten, muss ich etwas ausholen. Bei meinem Studium der Elektrotechnik hat mich der Fachbereich biomedizinische Elektrotechnik am meisten fasziniert. In meiner Promotion habe ich dann Computermodelle des Herzens erstellt und auf diesem Feld geforscht. Ein ehemaliger Kommilitone, der bei der ABB in der Schweiz arbeitete, machte mich auf ABB aufmerksam. Er meinte, da gibt es ein spannendes Forschungszentrum. Die machen nichts von dem, was du machst, und umgekehrt. Aber ihr passt meines Erachtens menschlich sehr gut zusammen. Das ist mir bis heute in Erinnerung geblieben. Ich habe mich bei den ABB-Verantwortlichen vorgestellt und einige Zeit später hatte ich meinen ersten Arbeitstag bei der ABB.

Von der Biomedizin zu Industrieanlagen. Klingt nach einer ganz neuen Welt.

Auf den ersten Blick schon. Doch von den Forschungsansätzen her sind sich biomedizinische Technik und Anlagentechnik sehr ähnlich. Man ist mit einem komplexen System konfrontiert, das man zunächst nicht versteht. Und dessen Funktionen von vielen Einflüssen, die sich gegenseitig bedingen, abhängen. In der biomedizinischen Technik versucht man zu verstehen, wie der menschliche Körper funktioniert. Wir erstellen Modelle von Organen und biologischen, chemischen und physiologischen Vorgängen im Körper. Ähnlich verhält es sich, wenn wir heute vor einer großen Industrieanlage stehen und deren Wirkmechanismen und Prozesse begreifen wollen. Auch hier wissen wir zunächst nicht, wie die Anlage im Detail funktioniert. Wir sind ja keine Chemieingenieure oder Öltechniker. Aber der Schlüssel zur Erkenntnis ist ein ähnlicher wie in der biomedizinischen Technik: Wir greifen uns zunächst einen kleinen Teil des zu analysierenden Systems heraus und schauen, welche Sensordaten vorhanden sind. Dann gehen wir in den Dialog mit den Fachexperten. Früher waren es Ärzte, heute sind es Prozessingenieure. Im Ergebnis verstehen wir dann diesen spezifischen Teil der Anlage. Ist dieser Schritt erfolgt, untersuchen wir die angrenzenden Module und Komponenten. Sprich, ich arbeite heute mit meinem Team am Herzschlag von Industrieanlagen. Wie in der Medizintechnik spielen KI-Methoden eine wichtige Rolle, um sich ein Gesamtbild über die Funktionszusammenhänge einer Industrieanlage zu erarbeiten.

KI im Allgemeinen und industrielle KI im Besonderen ist ja ein sich sehr schnell veränderndes Feld – sowohl in der Forschung als auch in der Praxis. Wie gelingt Ihnen der Brückenschlag zwischen diesen Welten?

Unsere Aufgabe ist es, die Entwicklungen und Fortschritte in der KI-Forschung auf Industrieprobleme anzuwenden. Dieser Ansatz funktioniert aber auch in der umgekehrten Richtung: Wenn ein Kunde mit einem spezifischen Industrieproblem auf uns zukommt, schauen wir, ob es inzwischen neue KI-Methoden gibt, mit denen wir das Problem adressieren können. Wir sehen uns als ein Bindeglied zwischen Theorie und Praxis. Die wissenschaftlichen Impulse holen wir uns durch das Lesen der aktuellen Forschung. Und wir sind regelmäßig auf internationalen KI-Kongressen. So behalten wir die aktuelle Forschung im Auge. Doch genauso wichtig ist der Blick in die Praxis. Wir gehen auf die Messen, auf denen unsere Kunden ausstellen, um die Fragestellungen und Herausforderungen der Anwender zu verstehen. Doch die wichtigste Praxisquelle ist, bei Unternehmen vor Ort zu sein, um die Anlagen zu sehen und mit den verschiedenen Beteiligten zu sprechen. Daraus ergeben sich die Zukunftsvisionen. Diese Praxiseinblicke sind extrem lehrreich, da wir erfahren, wie eine Chemieanlage, eine Papierfabrik, eine Mine, ein Umschaltwerk oder die Metallverarbeitung funktioniert.

Klingt nach einem spannenden Aufgabenfeld. Was reizt Sie neben dem Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis an in Ihrem Job?

Das CRC ist ein bisschen wie die ABB in klein. Wir haben am Standort Mannheim Kolleginnen und Kollegen aus fast allen Kontinenten. Die zweite Dimension der Internationalität ist das Zusammenspiel mit den globalen Kollegen der anderen Forschungszentren, um gemeinsam industrielle Fragestellungen zu beantworten.

Und was zeichnet ABB als Arbeitgeber aus?

Zwei Punkte: Alles, was wir tun, zahlt auf das Thema Nachhaltigkeit ein. Die Lösungen von ABB sorgen dafür, weniger Ressourcen zu verbrauchen, energieeffizienter zu produzieren, weniger Stillstand zu haben, Risiken für Mensch und Umwelt zu minimieren. Kurzum, wir machen etwas Gutes. Und zwar in einer großen Dimension. Wenn ich statt mit dem Auto mit dem Fahrrad fahre, kann ich ein bisschen CO2 einsparen. Wenn ich aber einen neuen Algorithmus entwickle, der einen Elektromotor ein halbes Prozent effizienter macht und dieser Motor in den nächsten 10 Jahren 500.000-mal verkauft wird, ist der Impact auf die Nachhaltigkeit exorbitant viel höher. So viel Fahrrad kann ich in meinem ganzen Leben nicht fahren. Sprich, bei ABB sitzt jeder Mitarbeitende an einem sehr großen Hebel. Wir bewegen diesen Hebel zwar nur minimal, doch durch die Größe des Hebels ist die Auswirkung enorm.

Und das zweite sind die Menschen bei ABB. Die Arbeitsatmosphäre und die Kollegen bei der ABB. Man kann jeder Kollegin und jedem Kollegen eine E-Mail schreiben und sich austauschen. Man wird eine Antwort bekommen – trotz der Größe des Konzerns. Das ist die Kultur bei ABB. Hier wird Wissen geteilt und an einem Strang gezogen. Das habe bei keiner Firma so gesehen.

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