Industrielle KI: „Das große Thema ist Vertrauen“

Dr. Martin Hoffmann ist Experte für industrielle KI bei ABB.
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Dr. Martin Hoffmann ist Research Team Manager für Industrial AI im ABB Corporate Research Center (CRC) in Mannheim. Er ist ein Pionier beim Einsatz von generativer Künstlicher Intelligenz in der Industrie und ein Wandler zwischen Theorie und Praxis: Er steht im engen Austausch mit globalen KI-Wissenschaftlern auf internationalen Fachkongressen. Und im Rahmen von Konsortialprojekten arbeitet er und sein Team eng mit ABBKunden zusammen, um industrielle KI-Lösungen zu testen und in der Praxis zu pilotieren. Wir sprachen mit dem promovierten Elektrotechniker über die Trends in der industriellen KI.  

ABB ist Vorreiter im Bereich industrielle KI. Machen wir eine kleine Zeitreise: Wo liegen die Wurzeln der industriellen KI bei ABB?

Es begann mit dem sogenannten Reliability Engineering. Hier gingen wir der Frage nach, wie man die Zuverlässigkeit eines Gerätes oder einer Anwendung vorhersagen kann. Aus der Berechnung der Ausfallwahrscheinlichkeit entstand die industrielle KI. Von da aus hat sie sich weiterentwickelt. Denn wenn wir anhand von Datenanalysen den optimalen Zeitpunkt für eine Wartung vorhersagen können, können wir auch proaktiv den Arbeitspunkt des Geräts optimieren. Ein Beispiel: Ein Motor wird über einen Frequenzrichter angesteuert. Je nachdem, welche Last er trägt, muss der Arbeitspunkt des Motors kleiner oder größer sein. Dieses Anpassen kann man mit klassischen regelungstechnischen Methoden lösen. Man kann aber auch die ganze Anlage anschauen und vorhersagen, wann z.B. eine größere Last kommen wird und den Motor schon vorher etwas höher drehen lassen, so dass kein Einbruch im Durchfluss entsteht.

Mit diesem Ansatz gelang es uns beispielweise bei einer Papierfabrik die Papierqualität zu erhöhen, in dem wir alle Sensordaten analysiert, auf historische Daten zugegriffen und die ideale Einstellung für die Maschinen gefunden haben. Die Fragestellung lautete: Bei welcher von tausenden möglichen Kombinationen von Einstellungen an der Maschine kam in der Vergangenheit das optimale Produkt, sprich die beste Papierqualität, heraus. Eine solche Frage ist in der Regel zu komplex, als dass sie ein einzelner Anlagenfahrer beantworten kann. Insbesondere dann, wenn er nicht mit der Anlage aufgewachsen ist. Hier spielt industrielle KI ihre Stärken aus.

 

Sprich, industrielle KI ist eine Art Spickzettel für Anlagenfahrer? 

Ich würde es etwas anders ausdrücken, doch verkürzt gesagt trifft diese Aussage zu. Denn KI hilft, fehlende praktische Erfahrungen zu kompensieren. Wer seit 30 Jahren ein und dieselbe Anlage bedient, kennt seine Anlage in und auswendig. Doch wenn die Babyboomer-Generation in den Ruhestand geht, geht dieses Wissen verloren. Hier kommt industrielle KI ins Spiel: Anwender, die nicht mit der Anlage aufgewachsen sind, können den Erfahrungsschatz mittels KI erlangen und auf aggregiertes Wissen zugreifen.

Doch wird industrielle KI auch andere gesellschaftliche Themen lösen. Wir wissen aus Gesprächen mit unseren Industriekunden, dass es zunehmend schwierig ist, Wochenendarbeit und Nachtschichten zu besetzen. Auch der Wunsch nach Home-Office und Remote Work ist ein gesellschaftlicher Trend, der auf Industrieunternehmen zukommt. Sie müssen Lösungen schaffen, dass Mitarbeitende die Maschinen und Anlagen steuern und überwachen können, ohne direkt vor Ort zu sein. Hier kann in Zukunft industrielle KI Routineaufgaben übernehmen, die Anlage somit autonomer machen und die Zahl der vor Ort Anwesenden minimieren. Steht eine Entscheidung an, könnte diese dann auch remote durch einen Anlagenfahrer in „Rufbereitschaft“ erfolgen, ähnlich wie ein Oberarzt in einer Klinik am Wochenende Hintergrunddienst hat

 

In der öffentlichen Debatte fällt immer wieder die Vision der autonomen Industrieanlage. Was hat es damit auf sich?

Autonome Industrieanlagen sind in der Tat der nächste Evolutionsschritt, der auf die Automatisierung folgt. Der Unterschied lässt sich ganz gut am Beispiel des Autofahrens darstellen: Früher gab es den klassischen Tempomaten, der konstant eine Geschwindigkeit von 130 Km/h hielt. Wenn das vorausfahrende Auto abbremste, musste man aber manuell abbremsen, um einen Auffahrunfall zu verhindern. Heute kommen bereits adaptive Tempomaten zum Einsatz, die mittels Sensoren den Abstand zum vorausfahrenden Auto messen und über die autonome Geschwindigkeitssteuerung den Abstand anpassen. Übertragen auf die Industrieanlage bedeutet das: Ich lasse Teile einer Industrieanlage automatisch laufen und der Anlagenfahrer überwacht lediglich und greift gegebenenfalls ein. Die Herausforderung für die Forschung liegt in beiden Fällen darin, auch Landstraßen ohne Fahrbahnmarkierung autonom befahren können.

Die meisten KI-Lösungen sind Blackboxen: Es kommen viele Daten rein und am Ende steht ein Ergebnis. Hier will die Industrie, und insbesondere die industriellen Nutzer, Transparenz. Und hier kommt der nächste KI-Trend ins Spiel: Explainable AI.

Und wie grenzen sich Automatisierung und Autonomie ab?

Der Unterschied zwischen Automatisierung und Autonomie bei einer Industrieanlage liegt in den Stufen der Kontrolle und Entscheidungsfindung innerhalb der Anlage. Automatisierung bezieht sich auf den Einsatz von Technologien und Systemen, um wiederholbare Aufgaben, Prozesse oder Abläufe ohne menschliches Eingreifen durchzuführen. Eine automatisierte Anlage nutzt dabei Roboter, Maschinen und Software, um spezifische Aufgaben zu übernehmen, wie etwa Produktionsprozesse, Maschinensteuerung oder Materialtransport. Diese Aufgaben laufen nach festgelegten Programmen oder Regeln ab. Eine automatisierte Anlage zeichnet sich dadurch aus, dass sie vorhersehbare Abläufe durchführt, die von Menschen programmiert wurden. Auch wenn sie viele Aufgaben selbstständig erledigt, ist in der Regel noch menschliche Überwachung erforderlich, um bei Fehlern oder starken Abweichungen einzugreifen.

Im Gegensatz dazu geht die Autonomie einer Industrieanlage einen Schritt weiter. Eine autonome Anlage verfügt über die Fähigkeit, auf Basis von Echtzeitdaten, Sensoren und künstlicher Intelligenz Entscheidungen selbstständig zu treffen und sich an neue oder unerwartete Situationen anzupassen. Das bedeutet, dass sie nicht nur vorher programmierte Abläufe ausführt, sondern eigenständig lernt und agiert. Autonome Anlagen benötigen keine dauerhafte und engmaschige menschliche Überwachung, da sie in der Lage sind, eigenständig zu planen, Probleme zu identifizieren und zu lösen. Während eine automatisierte Anlage von vordefinierten Prozessen abhängt, ermöglicht die Autonomie einer Industrieanlage eine flexible und anpassungsfähige Betriebsweise. Aber: Die Entscheidungen werden immer noch vom Anlagenfahrer getroffen. Dieser bekommt lediglich intelligentere und vor allen transparent hergeleitete Empfehlungen.

 

Ist es nicht eine Gefahr, wenn Anlagen per Autopilot fahren?

Das große Thema in der Künstlichen Intelligenz ist Vertrauen. Die meisten KI-Lösungen sind Blackboxen: Es kommen viele Daten rein und am Ende steht ein Ergebnis. Hier will die Industrie, und insbesondere die industriellen Nutzer, Transparenz. Und hier kommt der nächste KI-Trend ins Spiel: Explainable AI. Explainable AI – auch XAI genannt – ermöglicht es, KI transparenter und verständlicher zu machen. Im industriellen Kontext, wo Entscheidungen oft sicherheitsrelevant und geschäftskritisch sind, ist es entscheidend, dass die Ergebnisse und Entscheidungen von KI-Systemen nachvollziehbar und erklärbar sind. Unternehmen verlassen sich immer mehr auf KI-basierte Systeme, um Prozesse zu optimieren, Wartungen vorherzusagen oder Produktionsfehler zu reduzieren. Doch ohne Erklärbarkeit der Entscheidungen besteht die Gefahr, dass das Vertrauen in die Technologie sinkt, insbesondere bei unerwarteten oder ungewöhnlichen Ergebnissen.

In der Industrie ist Explainable AI besonders relevant, um sicherzustellen, dass KI-basierte Systeme den Vorschriften und Standards entsprechen, die in vielen Industriebereichen erforderlich sind. Regulatorische Anforderungen verlangen oft eine Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen, insbesondere in Bereichen wie der Fertigung, der Automobilindustrie oder der Energieerzeugung. XAI bietet die Möglichkeit, den Entscheidungsprozess der KI aufzuschlüsseln und damit verständlich zu machen, wie und warum bestimmte Vorhersagen oder Handlungen getroffen wurden. Dies erleichtert die Validierung der Systeme und trägt dazu bei, Risiken zu minimieren.

Und welche Rolle spielt der Mensch dabei?

Explainable AI verbessert die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine. Ingenieure, Techniker oder Produktionsleiter können anhand der Erklärungen der KI die vorgeschlagenen Maßnahmen besser verstehen und deren Angemessenheit beurteilen. Dies ermöglicht es den Mitarbeitern, fundierte Entscheidungen zu treffen und gegebenenfalls korrigierend einzugreifen. Besonders in sicherheitskritischen Bereichen ist es wichtig, dass Menschen die Kontrolle über automatisierte Systeme behalten und bei Bedarf schnell eingreifen können. XAI hilft dabei, dieses Gleichgewicht zwischen Automatisierung und menschlicher Verantwortung zu gewährleisten. Das ist der nächste Schritt der industriellen KI – die Systeme erklären ihre Entscheidungsfindung.

 

Ist das noch Zukunftsmusik?

Keinesfalls. Wir haben derzeit ein großes Forschungsprojekt mit mehreren Kunden und Universitäten im Bereich Explainable AI. Dieses europäische Projekt geht der Frage nach, wie wir den Einsatz von KI im Industrieumfeld selbstbegründend machen können.

 

Wo liegen denn momentan die Grenzen von generativer KI?

Wenn ich über generative KI mehrfach eine Fragestellung mit exakt dem gleichen Wortlaut stelle, bekomme ich nie vollständig gleichlautende Antworten, sondern einen variierenden Output. Die Herausforderung besteht darin, dass das System immer sehr ähnliche Ausgaben gibt. Nur so werden Anwendungen zuverlässig und vertrauenswürdig. Und exakt daran forschen wir.

Über das CRC in Mannheim

Das ABB Corporate Research Center in Mannheim ist eines von sieben globalen Forschungszentren von ABB. Hier arbeiten knapp 100 Mitarbeitende aus über 15 Nationen und beschäftigen sich mit rund einem Dutzend technischer Disziplinen. Die beiden Abteilungen, „Steuerungstechnik & Automatisierungskomponenten“ und „Digitalisierung & Softwaretechnologien“, entwickeln wegweisende neue Technologien zur Transformation von Produktions- und Energiesystemen. Ihr Ziel: Industrielle Anwendungen intelligenter, sicherer, autonomer und nachhaltiger zu gestalten.

Und wie kann man dem Ideal der stabilen Antworten näherkommen? 

Mehrere Ansätze: Man beschränkt die Fähigkeiten des Large-Language-Modells. Wir trainieren ja kein Modell von Grund auf, sondern greifen auf vortrainierte Modelle zu, die öffentlich verfügbar sind. Wir beschränken das Modell zum Beispiel auf einen sehr spezifischen Anwendungsfall, sprich wir sagen dem Modell, auf welche einzelne Funktion es sich konzentrieren soll. Und wenn eine andere Funktion abgefragt wird, wird die Antwort lauten: „Darauf habe ich keine Antwort, das ist nicht Teil meiner Kompetenz.“ So gelingt es, das Modell für diese eine Funktion vertrauensvoll und zuverlässig zu machen.

Zudem sind Retrievable Augmented Generation (RAG) und Human-in-the-Loop (HITL) gängige Verfahren. Der wesentliche Unterschied zwischen RAG und HITL liegt in der Art der menschlichen Beteiligung und der Nutzung externer Wissensquellen im KI-Prozess. RAG ermöglicht es der KI, während des Generierungsprozesses eigenständig auf spezialisierte Wissensdatenbanken oder Dokumente zuzugreifen, um ihre Ergebnisse zu verbessern. Dies geschieht vollkommen automatisch, ohne dass ein Mensch direkt eingreift. Der Fokus liegt darauf, durch den Zugriff auf aktuelle und dynamische Informationen die Genauigkeit und Relevanz der generierten Inhalte zu erhöhen.

Im Gegensatz dazu integriert der Human-in-the-Loop-Ansatz aktiv Menschen in den Entscheidungs- oder Trainingsprozess der KI. Fachkräfte oder Ingenieure überprüfen und steuern die KI in bestimmten Phasen, etwa bei der Datenaufbereitung, Modellanpassung oder im Umgang mit unerwarteten Situationen. Während RAG auf automatisierte Wissensabrufe setzt, wird bei HITL die menschliche Expertise genutzt, um die KI zu überwachen und gegebenenfalls zu korrigieren. HITL legt somit mehr Wert auf die menschliche Kontrolle bei Eingriffen in sicherheitskritische oder komplexe Anwendungen. Zudem gibt es noch eine ganze Reihe neuerer Methoden, doch die wollen wir noch nicht publizieren.

Klar, dass Dr. Hoffmann Wettbewerbsvorteile nicht Preis geben will. Doch er verrät, wie er als promovierter Biomedizintechniker, der Herzmodelle zum besseren Verständnis von Vorhofflimmern und zur personalisierten Planung der Ablationstherapie entwickelt hat, zu ABB gekommen ist.

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