ABB ist Vorreiter im Bereich industrielle KI. Machen wir eine kleine Zeitreise: Wo liegen die Wurzeln der industriellen KI bei ABB?
Es begann mit dem sogenannten Reliability Engineering. Hier gingen wir der Frage nach, wie man die Zuverlässigkeit eines Gerätes oder einer Anwendung vorhersagen kann. Aus der Berechnung der Ausfallwahrscheinlichkeit entstand die industrielle KI. Von da aus hat sie sich weiterentwickelt. Denn wenn wir anhand von Datenanalysen den optimalen Zeitpunkt für eine Wartung vorhersagen können, können wir auch proaktiv den Arbeitspunkt des Geräts optimieren. Ein Beispiel: Ein Motor wird über einen Frequenzrichter angesteuert. Je nachdem, welche Last er trägt, muss der Arbeitspunkt des Motors kleiner oder größer sein. Dieses Anpassen kann man mit klassischen regelungstechnischen Methoden lösen. Man kann aber auch die ganze Anlage anschauen und vorhersagen, wann z.B. eine größere Last kommen wird und den Motor schon vorher etwas höher drehen lassen, so dass kein Einbruch im Durchfluss entsteht.
Mit diesem Ansatz gelang es uns beispielweise bei einer Papierfabrik die Papierqualität zu erhöhen, in dem wir alle Sensordaten analysiert, auf historische Daten zugegriffen und die ideale Einstellung für die Maschinen gefunden haben. Die Fragestellung lautete: Bei welcher von tausenden möglichen Kombinationen von Einstellungen an der Maschine kam in der Vergangenheit das optimale Produkt, sprich die beste Papierqualität, heraus. Eine solche Frage ist in der Regel zu komplex, als dass sie ein einzelner Anlagenfahrer beantworten kann. Insbesondere dann, wenn er nicht mit der Anlage aufgewachsen ist. Hier spielt industrielle KI ihre Stärken aus.
Sprich, industrielle KI ist eine Art Spickzettel für Anlagenfahrer?
Ich würde es etwas anders ausdrücken, doch verkürzt gesagt trifft diese Aussage zu. Denn KI hilft, fehlende praktische Erfahrungen zu kompensieren. Wer seit 30 Jahren ein und dieselbe Anlage bedient, kennt „seine“ Anlage in– und auswendig. Doch wenn die Babyboomer-Generation in den Ruhestand geht, geht dieses Wissen verloren. Hier kommt industrielle KI ins Spiel: Anwender, die nicht mit der Anlage „aufgewachsen“ sind, können den Erfahrungsschatz mittels KI erlangen und auf aggregiertes Wissen zugreifen.
Doch wird industrielle KI auch andere gesellschaftliche Themen lösen. Wir wissen aus Gesprächen mit unseren Industriekunden, dass es zunehmend schwierig ist, Wochenendarbeit und Nachtschichten zu besetzen. Auch der Wunsch nach Home-Office und Remote Work ist ein gesellschaftlicher Trend, der auf Industrieunternehmen zukommt. Sie müssen Lösungen schaffen, dass Mitarbeitende die Maschinen und Anlagen steuern und überwachen können, ohne direkt vor Ort zu sein. Hier kann in Zukunft industrielle KI Routineaufgaben übernehmen, die Anlage somit autonomer machen und die Zahl der vor Ort Anwesenden minimieren. Steht eine Entscheidung an, könnte diese dann auch remote durch einen Anlagenfahrer in „Rufbereitschaft“ erfolgen, ähnlich wie ein Oberarzt in einer Klinik am Wochenende Hintergrunddienst hat.
In der öffentlichen Debatte fällt immer wieder die Vision der autonomen Industrieanlage. Was hat es damit auf sich?
Autonome Industrieanlagen sind in der Tat der nächste Evolutionsschritt, der auf die Automatisierung folgt. Der Unterschied lässt sich ganz gut am Beispiel des Autofahrens darstellen: Früher gab es den klassischen Tempomaten, der konstant eine Geschwindigkeit von 130 Km/h hielt. Wenn das vorausfahrende Auto abbremste, musste man aber manuell abbremsen, um einen Auffahrunfall zu verhindern. Heute kommen bereits adaptive Tempomaten zum Einsatz, die mittels Sensoren den Abstand zum vorausfahrenden Auto messen und über die autonome Geschwindigkeitssteuerung den Abstand anpassen. Übertragen auf die Industrieanlage bedeutet das: Ich lasse Teile einer Industrieanlage automatisch laufen und der Anlagenfahrer überwacht lediglich und greift gegebenenfalls ein. Die Herausforderung für die Forschung liegt in beiden Fällen darin, auch Landstraßen ohne Fahrbahnmarkierung autonom befahren können.