Das Pro­zess­leit­system (PLS): Im Spagat zwischen traditioneller Steuerung & IIoT

Foto eines Prozessleitsystems, das auf verschiedenen Bildschirmen angezeigt wird.
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Seit über 40 Jahren leisten Prozessleitsysteme (PLS) einen erheblichen Beitrag zur sicheren, effizienten und zuverlässigen Betriebsführung Tausender Industrieanlagen. ABB zählt schon von Anfang an zu den führenden Anbietern von PLS, die eine Vielzahl kritischer Prozesse in Bereichen wie wie Energieversorgung, Wasseraufbereitung, der Metall-, Papier-, Chemiebranche, der Nahrungsmittel- und Getränkeherstellung sowie in der Pharmaindustrie, der Schifffahrt und weiteren Prozessindustrien steuern. Neben den grundlegenden Anforderungen an Sicherheit, Effizienz und Zuverlässigkeit besteht heute aber auch ein wachsender Bedarf an agiler Innovation, um den stetig anspruchsvolleren und dynamischeren Anforderungen der Industrielandschaft gerecht zu werden.

Um beiden Anforderungen gerecht zu werden, sollten zukünftige Prozessautomatisierungssysteme eine klare Unterteilung in einem robusten “Evergreen”-Kern und einer erweiterten digitalfähigen Umgebung aufweisen. Während der Kern hauptsächlich auf eine zuverlässige und deterministische Reaktion mit einer hohen Verfügbarkeit ausgelegt ist, übernimmt die erweiterte Umgebung weniger zeitkritische Aufgaben und ermöglicht gleichzeitig eine schnellere Innovation und kontinuierliche Leistungsverbesserungen. Diese erweiterte Automatisierungsumgebung erlaubt eine sichere Konnektivität zu anderen IIoT-Initiativen (Industrial Internet of Things) und fördert eine engere Zusammenarbeit zwischen Menschen, Systemen und Anlagen.

Was ist ein Prozessleitsystem?

Ein Prozessleitsystem (PLS) ist eine fortschrittliche Softwarelösung, die Maschinen steuert und überwacht. Das Prozessleitsystem sorgt dafür, dass verschiedene Komponenten wie Sensoren, Aktoren, Steuerungen und Datenkommunikation miteinander verbunden sind, um eine effiziente Prozessführung zu gewährleisten. Es erfasst auch kontinuierlich Daten von prozessnahen Komponenten, analysiert sie und ermöglicht es den Betreibern, wichtige Parameter wie Temperatur, Druck, Durchfluss und andere Prozessvariablen permanent und in Echtzeit zu überwachen, was im manuellen Betrieb kaum möglich wäre.

Darüber hinaus bietet ein Prozessleitsystem fortschrittliche Funktionen zur Steuerung des industriellen Prozesses. Es ermöglicht die Automatisierung von Abläufen, die Überwachung von Sicherheitsmaßnahmen und die Durchführung von Regelungsstrategien, um kann den Prozess dank der gesammelten Daten auf einem optimalen Betriebsniveau zu halten.

Ein PLS wird in verschiedenen Branchen eingesetzt, darunter Chemie, Energieerzeugung, Lebensmittel- und Getränkeindustrie, Wasser- und Abwasserbehandlung, Pharmazie und viele andere. Sie bieten den Betreibern eine effektive Möglichkeit, den Prozess zu überwachen, Fehler zu erkennen, Störungen zu beheben und die Produktivität zu steigern. Darüber hinaus unterstützen PLS auch bei der Einhaltung von Umwelt- und Sicherheitsstandards.

Zukunftsweisende Architektur für sichere Prozessautomatisierung

Die zukünftige Prozessautomatisierung wird gemäß der Vision des Open Process Automation Forum auf unabhängige Softwaremodule mit definierten Kommunikationsschnittstellen setzen. Dabei werden sowohl die Prozessautomatisierungskerne als auch die erweiterten Prozessautomatisierungsumgebungen zu virtuellen, modularen Einheiten mit sicheren Schnittstellen, die auf Informationsmodellen und der Kommunikation nach dem Industriestandard OPC UA basieren. Diese containerisierten Module werden automatisch entsprechend den Anforderungen an Leistung und Sicherheit orchestriert. Die Authentifizierung und Autorisierung erfolgt nicht am Netzwerkrand, sondern im Kern des Systems nach dem Zero-Trust-Ansatz, bei dem die einzelnen Komponenten ihre Identität, Originalität und Berechtigung für bestimmte Aufgaben digital nachweisen müssen, um den wachsenden Bedrohungen für Prozessleitsysteme gerecht zu werden.

Durch die Unabhängigkeit der Prozesssteuerungs- und Anwendungssoftware von der Hardware in Form von containerisierten funktionalen Einheiten ist eine flexible Bereitstellung möglich. Die Software kann dynamisch über individuelle und Industrie-PC-basierte Steuerungen, Edge-Geräte, Server vor Ort und Cloud-Plattformen hinweg eingesetzt werden. Dadurch wird dem PLS eine hohe Flexibilität und Anpassungsfähigkeit ermöglicht, unabhängig von der genutzten Hardwareumgebung.

Foto eines Arbeiters, der ein Prozessleitsystem bedient.

Die Orchestrierungsumgebung automatisiert die Verteilung der Arbeitslast zwischen den verfügbaren Hardwareressourcen und vereinfacht somit die Zuweisung von Steuerungsanwendungen. Erweiterte Anwendungen können parallel zum Steuerungskern ausgeführt werden und aufgrund ihrer Containerisierung einfach modifiziert werden, ohne den laufenden Betrieb zu stören. Dadurch wird eine effiziente Ressourcennutzung gewährleistet und eine flexible Anpassung und Weiterentwicklung der erweiterten Anwendungen wird ermöglicht.

Neue Funktionalitäten können vor ihrer Umsetzung mittels Simulationen und digitalen Zwillingen online getestet und validiert werden. Durch anpassbare Verfügbarkeitskonzepte wird die erforderliche Widerstandsfähigkeit gewährleistet. Diese Konzepte sind darauf ausgelegt, die Anforderungen der jeweiligen Anwendung zu erfüllen und ermöglichen es den Benutzern, die Systemverfügbarkeit mit kostengünstiger Hardware zu optimieren.

Automatisierte Orchestrierung und nahtlose Integration neuer Technologien

Die automatisierte Orchestrierung und das Management modularer, containerisierter Steuerungs-Engines und -Anwendungen bedeuten eine bedeutende Veränderung für zukünftige Nutzer von Prozessleitsystemen. Während IT-Abteilungen möglicherweise mit solchen Aufgaben vertraut sind, konzentrieren sich Betriebsingenieure hauptsächlich auf die Prozessführung und weniger auf die Verwaltung der Tools, die die Prozesse steuern. Daher besteht ein Bedarf, diese Tätigkeiten zu automatisieren.

Das zukünftige Prozessautomatisierungssystem ist darauf ausgelegt, dass bestehende Nutzer von den Vorteilen neuer Technologien und Lösungen mit minimalen Änderungen ihrer vorhandenen Konfiguration profitieren können. Durch die Beibehaltung ihrer Infrastruktur und die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, wann neue Technologien eingeführt werden sollen, können Nutzer ihr geistiges Eigentum und ihre Investitionen in Anwendungen schützen.

Innovative Portabilitätskonzepte und eine Technologieunabhängigkeitsschicht zwischen der PLS-Software und der Hardware erleichtern die reibungslose Übertragung von Anwendungen von einer Plattform auf eine andere und minimieren Probleme im Zusammenhang mit dem Hardware-Lebenszyklus. Dies führt zu einer kostengünstigeren und risikoarmen Methode, bestehende Systeme schrittweise weiterzuentwickeln und sicherzustellen, dass die zukünftige Automatisierung immer auf dem neuesten Stand ist.

Flexible Architektur für optimierte Leitsysteme

Im Zuge der Stärkung des Leitsystemkerns wird nicht-kritische Funktionalität verstärkt auf eine nach außen gerichtete Plattform verlagert, die möglicherweise häufiger aktualisiert werden muss. Die Edge-Software von ABB erfüllt diese Anforderungen und dient als Datendiode, um den Kern des Prozessleitsystems sicher zu schützen. Gleichzeitig bietet sie ein umfassendes Anwendungs-Framework für Überwachung und Optimierung. Wenn Edge-Funktionen entscheidend für die Kernsteuerung sind, können sie als integraler Bestandteil des Kerns implementiert werden.

Revolutionierung der Projektdurchführung und Automatisierung

Durch die Entkopplung von Hardware-Engineering und Softwareentwicklung kann die Projektdurchführung effizienter gestaltet werden, beispielsweise mit Hilfe von ABB Adaptive Execution™. Dieses innovative Tool ermöglicht eine parallele Ausführung von Aufgaben durch verschiedene Teams an unterschiedlichen Standorten, sogar in virtuellen cloudbasierten Engineering-Umgebungen. Ingenieure können virtuelle Anwendungstests und Inbetriebnahmen durchführen, indem sie auf Virtualisierungs-, Emulations- und Simulationstechnologien zurückgreifen, die als digitale Zwillinge in der Cloud implementiert sind.

Eine Blaupause für den Aufbau eines Prozessleitsystems.

Eine flexible, interoperable, modulare und sichere Architektur für ein Prozessleitsystem, die an Kundeninitiativen und neuen Technologien ausgerichtet ist.

Der digitale Zwilling bildet die Prozessdynamik nach und ermöglicht eine Überprüfung der Leistungsfähigkeit im Hinblick auf bestimmte funktionale Vorgaben. Durch diese virtuelle Inbetriebnahme können potenzielle Probleme frühzeitig erkannt werden, was einen reibungsloseren und schnelleren Start ermöglicht und gleichzeitig parallel zu anderen Projektaufgaben durchgeführt werden kann.

Ein Aufbauplan für die Architektur eines Prozessleitsystems.

Die Trennung von Hardware- und Software-Engineering ermöglicht die Entkoppelung von Aufgaben und die parallele Arbeit unabhängiger Teams mit präziser und effizienter später Bindung, was wiederum die Auswirkungen von Änderungen auf den Projektzeitplan mindert.

Effiziente Projektausführung durch modularen, wiederverwendbaren Programmcode

Eine weitere Rationalisierung der Projektausführung wird durch den Einsatz von Bibliotheken mit modularem, wiederverwendbarem Programmcode ermöglicht, der speziell für bestimmte Arten von Prozessen oder Betriebsmitteln entwickelt wurde.

Zukünftige Prozessautomatisierungssysteme werden auf vorgefertigte und vorgeprüfte Automatisierungssoftware-Module zurückgreifen, die alle erforderlichen Elemente für Steuerung, Visualisierung und die dazugehörigen Dienste enthalten.

Durch wohldefinierte Kommunikationsschnittstellen zur Interaktion der Prozessleitsysteme mit anderen Modulen entfällt die Notwendigkeit der Entwicklung einer komplexen “Klebstofflogik” zur Koordination des Modulverhaltens.

 

Skizze zur Einbindung eines Prozessleitsystems in eine Produktionsanlage.

Das Prozessautomatisierungssystem der Zukunft ist ein ganzheitliches digitales Ökosystem mit gemeinsam genutzten Daten.

Vorgefertigte Module ermöglichen eine flexible Anpassung der Steuerungsstrategie und eine einfache Rekonfiguration von Prozessen. Qualitätskontrollen des vorab geprüften Programmcodes gewährleisten zudem einen reibungslosen und problemlosen Betrieb der entsprechenden Einheit. Dies ermöglicht eine schnelle Inbetriebnahme ohne Zwischenfälle.

Prozessorchestrierung mit automatisierten Engineering-Methoden

Das Automatisierungssystem erleichtert die Gesamtprozessorchestrierung der Softwaremodule und ermöglicht eine Veränderung der Aufgaben des Steuerungsingenieurs. Statt sich auf die Programmierung der Steuerlogik zu konzentrieren, kann der Ingenieur nun prozessspezifische Automatisierungsanforderungen konfigurieren. Sollte eine spezielle Prozesseinheit entwickelt werden, für die kein vorgeprüftes Modul verwendet werden kann, helfen automatisierte Engineering-Methoden dabei, die Lücke zwischen Offline-Engineeringtools und der direkten Codeentwicklung im zukünftigen Prozessautomatisierungssystem zu schließen.

Ein vernetztes digitales Ökosystem mit IIoT-Integration

Zu den Funktionen der zukünftigen Prozessleitsysteme gehört eine erweiterte, digitalfähige Umgebung, die eine sichere und vereinfachte Interaktion mit anderen wichtigen Elementen in der Edge, vor Ort oder in der Cloud ermöglicht. Dadurch erhalten Nutzer auf Anwendungsebene einen geschützten Zugriff auf OT-Daten, sowie Daten von anderen IIoT-Geräten, Anwendungen und Geschäftsstrukturen, ohne dabei die Kernsteuerungsaufgaben zu beeinträchtigen. Das digitale Ökosystem basiert auf modernsten Edge- und Cloud-Technologien, die die Automatisierungslandschaft verändern. Sie bieten eine flexible und sichere Infrastruktur zur Datenverarbeitung, einschließlich Servern, Datenspeichern, Entwicklungsumgebungen, Business-Intelligence-Diensten, künstlicher Intelligenz (KI) und Datenanalyse. Diese Technologien tragen dazu bei, das Risikomanagement zu verbessern, die Produktivität zu optimieren und Nachhaltigkeitsziele zu erreichen.

Optimierung durch Datenanalyse

Daten spielen eine entscheidende Rolle bei der Optimierung von Prozessen, Anlagen und Unternehmen. Die Herausforderung besteht darin, Daten aus verschiedenen Quellen zu erfassen, zu integrieren, in den richtigen Kontext zu setzen und fundierte Erkenntnisse zu gewinnen, die den richtigen Personen zur rechtzeitigen Handlung zur Verfügung stehen. Flexible, auf Edge-Computing ausgerichtete Lösungen können dabei helfen, Probleme vorherzusagen und Maßnahmen für einen verbesserten Anlagenbetrieb, präventive Wartungsstrategien und eine optimierte Abstimmung von Produktionsprozessen vorzuschlagen. Durch die Analyse von Daten können Prozessleitsysteme effizientere Betriebsabläufe entwickeln und umsetzen und so die Gesamtleistung steigern und bessere Ergebnisse erzielen.

Einfluss auf neue Geschäftsmodelle

Die digitale Transformation wird eine Vielzahl neuer Geschäftsmodelle und Dienstleistungen ermöglichen. Durch die Trennung des digitalen Ökosystems vom kritischen Kern können erweiterte Anwendungen einem separaten Softwarebeschaffungsprozess folgen, der eine höhere Geschwindigkeit ermöglicht und den Weg zu SaaS- (Software as a Service) oder PaaS-Geschäftsmodellen (Platform as a Service) öffnet. Dies hat zur Folge, dass sich die Kostenstruktur von Investitions- zu Betriebskostenbudgets verlagert. Unternehmen können von dieser Verschiebung profitieren, da sie flexibler auf Veränderungen reagieren und neue Technologien schneller einführen können. Dies eröffnet ihnen die Möglichkeit, innovative Geschäftsmodelle zu entwickeln und ihre Wettbewerbsfähigkeit zu stärken.

Digitale Daten gelangen ohne Störung des Steuerungskerns auf direktem Weg zu den Cloud-Anwendungen.

Veränderte Rollen und Prozesse in der digitalen Transformation

Die digitale Transformation der heutigen Prozessleitsysteme hat Auswirkungen auf die Rollen und Aufgaben des Anlagenpersonals. Insbesondere das Leitwartenpersonal wird von den Veränderungen am stärksten betroffen sein. In zukünftigen Automatisierungssystemen werden autonome Betriebsabläufe und industrielle KI eine revolutionäre Veränderung der Arbeit mit sich bringen. Dabei geht es weniger darum, den Menschen zu ersetzen, sondern vielmehr darum, die kognitiven Fähigkeiten des Menschen zu erweitern, um sein Potenzial zu stärken und Entscheidungen zu unterstützen. Experten werden von wiederkehrenden Aufgaben entlastet und können sich auf anspruchsvollere Tätigkeiten konzentrieren. Es entsteht eine Zusammenarbeit zwischen Menschen und autonomen Systemen, wobei der Mensch letztendlich die endgültige Entscheidung trifft.

Im Feld werden Sensordatenerfassung und maschinelles Lernen die Sinne des Bedienpersonals erweitern, unterstützt durch Augmented Reality (AR)-Tools. Dadurch wird eine effizientere Wartung und Inbetriebnahme ermöglicht. Für Ingenieure gibt es eine Vielzahl von Innovationen, die die Komplexität im Management integrierter Anlagensysteme beseitigen. Dazu gehören selbstkonfigurierende Netzwerke, kontinuierlich aktualisierte Betriebsabläufe, das Hinzufügen neuer Anlagenmodule nach dem Plug-&-Produce-Prinzip sowie nativ cybersichere Komponenten. Diese Veränderungen werden die Effizienz steigern, die Fehleranfälligkeit reduzieren und den Ingenieuren ermöglichen, sich auf strategische Aufgaben und Innovationen zu konzentrieren.

Der Weg in eine zukunftsorientierte Prozessautomatisierung

Die beschriebene Vision eines Prozessautomatisierungssystems stellt für ABB den Leitfaden dar, um in den kommenden Jahrzehnten Innovation in den Prozessleitsystemen kontinuierlich zu vereinfachen und zu beschleunigen. ABB ist davon überzeugt, dass zukünftige Prozessautomatisierungssysteme Unternehmen in einer sich schnell verändernden Welt unterstützen werden, indem sie anpassbare, zuverlässige, integrierte, modulare und sichere Automatisierungslösungen bieten, die eine flexible, einfache und schnelle Projektierung und Inbetriebnahme ermöglichen. Diese Vision fördert die digitale Transformation und Zusammenarbeit zwischen Menschen, Systemen und Anlagen, indem sie eine sichere OT/IT-Integration für autonome Betriebsabläufe und eine nachhaltige Performance ermöglicht. Gleichzeitig steht die Sicherheit von Mensch und Umwelt im Fokus und sorgt für langfristigen wirtschaftlichen Erfolg für Unternehmen, die diesen Weg einschlagen möchten.

Prozessleitsysteme von ABB

Das aktuelle Angebot an Prozessleitsystemen von ABB finden Sie hier & wir beraten Sie dazu auch gerne persönlich: prozessautomatisierung@de.abb.com