Mehr als nur ein Strohfeuer

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Vom landwirtschaftlichen Nebenprodukt zu umweltfreundlicher Wärmeenergie – im emsländischen Emlichheim steht das erste Heizkraftwerk Deutschlands, das ausschließlich Stroh für die Produktion von Strom und Wärme nutzt. ABB lieferte einen Großteil der elektro- und automatisierungstechnischen Ausrüstung.

Als erster Energieerzeuger in Deutschland setzt die Bioenergiekraftwerk EmslandGmbH & Co. KG (BEKW) in großem Umfang Stroh als Brennstoff ein. Mit einer Feuerwärmeleistung von fast 50 MW versorgt das Unternehmen Industrie und Haushalte aus der Region. Eigens für diesen Zweck gegründet, arbeitet es seit 2006 gemeinsam mit der Emsland-Group und der BE Bioenergie daran, eine sichere, planbare und umweltschonende Energieversorgung zu realisieren.

Um beim Verbrennen des Strohs einen möglichst hohen Wirkungsgrad aus der eingesetzten Primärenergie zu erzielen, setzt das Bioenergiekraftwerk Emsland auf das Prinzip der Kraft-Wärme-Kopplung. Der eine Teil der Energie wird in elektrischen Strom umgewandelt, der andere Teil als Prozess-/Heizwärme nutzbar gemacht. Ein Pufferspeicher, der 4.000 m³ Wasser fasst, kompensiert Lastschwankungen bei der Prozessdampf- und Wärmeabnahme, um einen durchgängig wärmegeführten Betrieb sicherzustellen. Das BEKW macht auf diese Weise bis zu 90 % der im Stroh enthaltenen Primärenergie nutzbar.

 

Vom Kessel in den Heizkörper

Die Energieproduktion funktioniert in einem Strohheizkraftwerk nach dem klassischen Ranking-Prinzip, das die Erzeugung von Dampf in einer Kesselanlage und dessen Entspannung in einer Turbine beschreibt. Über eine Brennstoffbrücke werden die Strohballen im ersten Schritt auf Förderbändern vom Lager zum Kesselhaus transportiert. Kurz vor dem Kessel zertrennen die rotierenden Schaufeln der Ballenauflöser die Strohballen und befördern das lose Stroh in den Feuerraum, wo es auf einem wassergekühlten Vibrationsrost verbrennt. Durch 12.000 Öffnungen zirkuliert die Primär- und Sekundärluft und garantiert so den vollständigen Ausbrand des Strohs, geringe Emissionswerte und einen hohen Wirkungsgrad. Die freigesetzten Gase werden gefiltert und über einen Kamin mit Emissionsmessanlage kontrolliert nach außen abgelassen.

Die Wärme, die bei der Verbrennung entsteht, wird zunächst zum Verdampfen des Wassers in den Kesseln genutzt. Die nachgeschalteten Überhitzer steigern die Temperatur des Dampfes auf 522 °C, bevor der angekoppelte Generator die Rotationsenergie der Turbine in elektrische Energie umwandelt. Über eine Dampfleitung wird der Prozessdampf zur Emsland-Group transportiert; über das Nahwärmenetz wird Heizwärme an die angeschlossenen Privathaushalte und öffentlichen Einrichtungen geliefert.

Komplexe Prozesse einfach steuern

Für die elektro- und automatisierungstechnische Ausrüstung setzte BEKW auf die Unterstützung seines Kooperationspartners Stadler + Schaaf, der wiederum als langjähriger Engineeringpartner von ABB über reichlich Erfahrung auf diesem Gebiet verfügt. „Mit der kompetenten Unterstützung von Stadler + Schaaf wurden die verfahrenstechnischen Konzepte automatisierungstechnisch umgesetzt, die Prozesse optimiert sowie Planungsänderungen kurzfristig und fachmännisch realisiert“, sagt Wilhelm Pieper, Geschäftsführer des BEKW.

Das eingesetzte Leitsystem basiert auf dem System 800xA von ABB. Den Kern bilden zwei redundante Controller vom Typ AC 800M. Das System ist skalierbar und bietet durch die Integration von Applikationen und Geräten eine leistungsstarke Informationsstruktur. Für das Bedienpersonal ist eine einheitliche Visualisierung mit schnellem Zugriff auf alle Prozessinformationen von der zentralen Warte aus vorgesehen. Eine vollständig integrierte Engineering-Umgebung erlaubt einen durchgängigen Informationsfluss über alle Engineering-Phasen bis hin zur Inbetriebnahme und über den gesamten Lebenszyklus des Systems hinweg. Das BEKW ist so ausgelegt, dass es 72 Stunden ohne Beaufsichtigung gefahren werden kann. Das Leitsystem gehört zu den ersten in Deutschland installierten virtualisierten Systemen, das heißt, einige der notwendigen Server für die verschiedenen Dienste des Leitsystems werden mit dem Softwarepaket VMware virtualisiert. Das verringert die Kosten für die eingesetzte Hardware.

 

Kommunikation über Lichtwellenleiter

Die Verbindung zu den Feldgeräten wird über 27 Remote-I/Os vom Typ S800 gewährleistet. Redundant ist neben der Controller-Architektur auch die komplette Kommunikation über Lichtwellenleiter (LWL) zu den Remote-I/Os. Die drei Bedienstationen sowie die Engineering-Station kommunizieren ebenfalls über eine redundante Netzwerkstruktur. Sie verfügen über insgesamt zehn Monitore und zwei Großbildschirme. Eine ebenfalls redundante Profibus-Verbindung koppelt die sicherheitsgerichtete HIMA-Steuerung für den Kesselschutz an das Leitsystem an.

Das Leistungsspektrum des ABB-Engineeringpartners Stadler + Schaaf umfasste neben der Erstellung des Pflichtenheftes das Detailengineering sowie die Installation und Verkabelung der gesamten Elektro- und Automatisierungstechnik. Dazu gehören neben dem Leitsystem die komplette Instrumentierung und die Einbindung der zahlreichen unterlagerten SPS-Steuerungen über OPC. Auch die Nieder- und Mittelspannungsanlagen wurden von Stadler + Schaaf errichtet. Allein 130 Schaltschränke fertigten und lieferten die Automatisierungsexperten aus Offenbach an der Queich. Nach dem Loopcheck und der Inbetriebnahme erfolgte im Juli 2013 die erste Dampfeinspeisung im Kraftwerk.

„Zu den besonderen Herausforderungen zählte unter anderem die Blockregelung inklusive der Minutenreserve unter Berücksichtigung der Prozessdampflieferung und Nahwärme“, erläutert Peter Schandin, Projektleiter bei Stadler + Schaaf. „Auch die Koordination und systemneutrale Integration der Fremdgewerke und Blackboxes in das Prozessleitsystem war technisch und organisatorisch anspruchsvoll“, so Schandin weiter.

 

Kontrolle weiterer Anlagenteile

Im Mittelspannungsbereich verbaute Stadler + Schaaf drei Frequenzumrichter vom Typ ABB ACS800 für den Frischlüfter, den Saugzug und die Speisewasserpumpe. Weitere 42 ABB-Frequenzumrichter der Typen ACS850 beziehungsweise ACS350 sind im Niederspannungsbereich installiert. Rund 2.700 MSR-Signale hauptsächlich aus ABB-Temperatur- und Druckmessgeräten und weitere 650 Signale aus der elektrotechnischen Ausrüstung des Kraftwerkes laufen im Leitsystem zusammen. Dazu kommen dann noch über 14.000 Signale aus SPS-Steuerungen, die über OPC übertragen werden. Damit werden weitere Anlagenteile des Kraftwerkes kontrolliert und koordiniert, wie die Schneckensynchronisation, die Turbine, die Prozessdampf- und Wärmeauskopplung oder die Rauchgasreinigung.

„Die Blockregelung muss Prozessdampflieferung und Nahwärme berücksichtigen.“