Rekordröhre durch die Alpen
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Der Anfang Juni eröffnete Gotthard-Basistunnel ist ein Jahrhundertbauwerk. Auf einer Strecke von 57 km unterquert der Zugverkehr den Alpenhauptkamm – Basel und Mailand rücken eine Stunde näher zusammen. Innovative Technologien von ABB tragen ihren Teil zum langfristigen Erfolg der neuen zentralen Verkehrsader mitten in Europa bei.
Zwischen der ersten Sprengung am 4. November 1999 und der Eröffnung am 1. Juni 2016 liegen 17 lange Jahre: Der Bau des Gotthard-Basistunnels ist ein grandioses Verkehrsprojekt. Die Schweiz hat jetzt großzügig gefeiert und ihre Werte wie Innovation, Präzision und Zuverlässigkeit in die Welt hinausgetragen. „Wir freuen uns, von Ende 2016 an den längsten Eisenbahntunnel der Welt zu betreiben“, sagt Andreas Meyer, CEO der SBB AG (Interview). „Dass wir den Tunnel im Budget und sogar ein Jahr früher als ursprünglich geplant eröffnen können, ist nicht zuletzt Ausdruck des guten Schweizer Projektmanagements.“
Über 80 000 Gäste feierten am ersten Juniwochenende auf den Festplätzen nördlich und südlich des 57 km langen Tunnels. Gründe zur Freude gibt es reichlich: Wenn im Jahr 2020 alle begleitenden Projekte – insbesondere der Ceneri-Basistunnel – für die Neue Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT) abgeschlossen sein werden, wird sich die Reisedauer zwischen Basel und Mailand um 60 Minuten verringern und die Kapazität für Gütertransporte wird um fast 50 % wachsen.
Nach dem Feiern beginnt wieder die Arbeit: Bevor am 11. Dezember 2016 in den neuen Röhren der reguläre Bahnbetrieb beginnt, müssen zunächst noch Tausende Testfahrten absolviert werden. „Die SBB ist verantwortlich dafür, dass alle Züge sicher, zuverlässig und pünktlich verkehren“, sagt Andreas Meyer. „Bis zur Inbetriebnahme gibt es Millionen von Details zu regeln, Tausende von Nachweisen zu erbringen, akribische Testreihen durchzuführen und zahlreiche Bewilligungen zu erarbeiten.“ Schon im Jahr 1947 hatte Carl Eduard Gruner, Ingenieur und Verkehrsplaner, die visionäre Idee eines Gotthard-Basistunnels als Teil eines Schnellbahnsystems skizziert. 2016 ist die Idee Wirklichkeit geworden: 28,2 Mio. t Gestein wurden herausgebrochen, um die Rekorddoppelröhre zu schaffen. Zu Spitzenzeiten arbeiteten ungefähr 2.400 Menschen in drei Schichten rund um die Uhr. Für die beiden Hauptröhren und die dazugehörigen Sicherheits-, Lüftungs- und Querstollen wurden insgesamt 152 km Röhren unter zum Teil schwierigsten geologischen Bedingungen gebohrt. Der Tunnel erreicht eine maximale Höhe von 550 m – damit rollt der Bahnverkehr auf einer Flachbahn praktisch ohne Steigung und Gefälle unter dem Alpenhauptkamm hindurch. Die Strecke von Altdorf nach Bellinzona verkürzt sich um 30 km. Die effektiven Gesamtkosten des Gotthard- Basistunnels betragen CHF 12,2 Mrd. Die gesamte NEAT mit Lötschberg-, Gotthard- und Ceneri-Basistunnel erfordert Investitionen in Höhe von CHF 23 Mrd. Als Gegenwert wird Mitteleuropa in der endgültigen Ausbaustufe der NEAT von 2020 an eine Nord-Süd-Bahnverkehrsachse von sehr hoher Leistungsfähigkeit besitzen: Mehr als 20 Mio. Menschen allein im Einzugsgebiet zwischen Süddeutschland und Norditalien profitieren vom Gotthard-Basistunnel. Die Zugverbindungen werden schneller, zuverlässiger und pünktlicher.
Personenzüge werden auf der Nord-Süd-Achse im Halbstundentakt verkehren und im Tunnel in der Regel mit einer Geschwindigkeit von bis zu 200 km/h fahren; möglich sind künftig bis zu 250 km/h. Während des Endausbaus der NEAT bis 2020 wird die Verkürzung der Reisezeit zwischen Basel und Mailand um eine Stunde schrittweise spürbar. Dem Güterverkehr bringt die Flachbahn durch den Gotthard große Vorteile: Sie erlaubt längere Züge mit größerem Gewicht und weniger Loks sowie kürzere Fahrzeiten. Die Effizienz und Zuverlässigkeit im Schienengüterverkehr steigt – die Schiene wird konkurrenzfähiger. Die Transportkapazität nimmt zu: Pro Tag können bis zu 260 Güterzüge fahrplanmäßig verkehren; auf der historischen Bergstrecke waren es maximal 180. Güterzüge werden künftig auf ihrem Weg durch die Schweizer Alpen keine zusätzliche Schiebelok mehr brauchen; zeitintensive Rangiermanöver entfallen. Die für die Zukunft erwartete Zunahme von Warentransporten im Nord-Süd-Verkehr lässt sich so bewältigen.
Damit im Tunnel künftig alles reibungslos abläuft, trägt ABB mit wesentlichen Technologien zum Betrieb des Bahnverkehrsmonuments bei: mit der Steuerung der lebensnotwendigen Tunnellüftung, der Energieversorgung der Infrastruktur und der unterbrechungsfreien Stromversorgung für die Erhaltungs- und Interventionszentren. Damit folgt ABB einer Tradition: Bereits 1903 elektrifizierte die damalige BBC den 20 km langen Simplontunnel zwischen Brig (Schweiz) und Iselle di Trasquera (Italien) auf eigene Kosten und Risiken – als Denkanstoß für die SBB. Die später von BBC übernommene Maschinenfabrik Oerlikon (MFO) zeichnete 1920 für die Elektrifizierung des 1882 eröffneten Gotthard-Scheiteltunnels verantwortlich. Ebenfalls von MFO kamen zu dieser Zeit die elektrischen Gotthard- Lokomotiven, die Kultstatus unter den Schweizer Bahnfahrzeugen erlangten, insbesondere die grünen, „Krokodile“ genannten, Güterzugloks.
Eine wesentliche ABB-Leistung im neuen Gotthard-Basistunnel ist die Lüftung. Acht Lüftungsventilatoren mit insgesamt 15,6 MW Leistung in den beiden Lüftungszentralen Sedrun und Faido bilden gemeinsam mit 24 Strahllüftern, die direkt in den Tunnelröhren nahe der Portale Erstfeld und Faido angebracht sind, die stärkste Lüftung der Welt. In einem Konsortium mit der TLT-Turbo GmbH lieferte ABB die Mittelspannungs- und Niederspannungsverteilung inklusive Antriebstransformatoren und Umrichtern ACS1000 sowie Niederspannungskomponenten. Auch das Steuerungssystem mit Kopfrechnern stammt von ABB. Über die Feldebene, welche mit Controllern AC 800M bestückt ist, und die beiden Kopfrechner in Sedrun und Faido, kommunizieren die Anlagen mit dem Tunnelleitsystem. Ebenfalls zum Lieferumfang gehören die Instrumentierung und die Sensorik des gesamten Belüftungssystems.
„Das Lüftungssystem ist komplett redundant ausgelegt. Würde ein System ausfallen, könnte über den Szenariomanager die Lüftung so eingestellt werden, dass die anderen Komponenten die gesamten anfallenden Aufgaben übernehmen würden. Im Normalbetrieb laufen allerdings immer beide Systeme gleichzeitig, weil das ökonomischer ist“, sagt Alwin Larcher, ABB-Projektleiter des Konsortiums für die Realisierung der Betriebslüftung. Die Steuerung von ABB, basierend auf dem Leitsystem 800xA, verarbeitet alle relevanten Daten wie Feuchte oder Luftgeschwindigkeit und erzeugt per Befehl an die Lüftungsgeräte das gewünschte Tunnelklima. „Ein nicht zu unterschätzender Punkt sind die Einflüsse der Wetterlage in Nord und Süd. Herrscht beispielsweise im Süden ein Hoch, drückt die Luft nach Norden durch den Tunnel“, sagt Alwin Larcher. Auch Nebensysteme wie Nothalttüren, Signalisationen oder Beschilderungen werden über das ABB-System mitgesteuert.
Für die 50-Hz-Tunnelinfrastruktur setzte ABB 875 gasisolierte Mittelspannungsschaltfelder vom Typ ZX0 ein. Die 16-kV-Schaltanlagen sind äußerst kompakt gebaut. Über 500 Schutz- und Steuereinheiten REF542plus mit mehrstufigem Distanzschutz sorgen über die gesamte Länge des Tunnels für optimale Sicherheit. Mehrere Hundert vakuumimprägnierte Trockentransformatoren von ABB gewährleisten die 50-Hz-Energieversorgung im Tunnel sowie diejenige des Notnetzes. Um in einem Netz optimale Selektivität bei gleichzeitig stabiler Versorgungssicherheit zu gewährleisten, müssen die Fehlerart und der Fehlerort schnell ermittelt und an das Tunnelleitsystem übertragen werden. Dank Remote Service ist ein Zugriff auf gespeicherte Programme und Schutzdaten aus der Ferne möglich. „Die großen Herausforderungen im Gotthard sind die erschwerten klimatischen Bedingungen sowie die raue Umgebung mit aggressivem Salzeintrag, Bremsstaub, Rußpartikeln sowie Schienen- und Fahrdrahtabrieb. Hinzu kommen starke Druckschwankungen von 10 kPa durch die mit 250 km/h passierenden Züge“, sagt Mark Wiegershaus, Head of Product Marketing für gasisolierte Mittelspannungsschaltanlagen bei ABB in Ratingen. „Neben dem standardmäßig gasdicht verschweißten Hochspannungsteil haben wir den Steuerschrank zusätzlich in Schutzklasse IP65 ausgeführt und schließen jeglichen Eintritt von Staub oder Strahlwasser aus.“ Hinzu kommt, dass die Schaltanlagen in den Querschlägen des Tunnels platziert sind, die zugleich als Fluchtwege dienen. „Wir haben die Druckentlastung bei einem etwaigen Störlichtbogen deshalb über einen Absorber gelöst, der verhindert, dass heiße Luft in die Fluchtröhre strömen kann“, sagt der zuständige Projektleiter Helmut vom Dorp.
Für die elektrischen Leitungen der Beleuchtungsanlage mit über 10.000 Orientierungsleuchten und 450 Fluchtwegleuchtsystemen installiert ABB auf einer Gesamtlänge von über 21 km PMA-Kabelschutzsysteme. „Wir konnten in der Vergabephase nachweisen, dass unser speziell formuliertes Polyamid als Kabelschutz alle geforderten Leistungen vollständig erfüllt oder gar übertrifft. Bei Biegeradien, Flexibilität und Montagegeschwindigkeit liegen alle Vorteile bei Kunststoff“, sagt Brigitte Beck, Local Business Unit Leader bei ABB EPIP (PMA) Uster (Schweiz). „Hinzu kommt, dass wir vom Schutzrohr bis zu den Befestigungen eine klassische Endto- End-Systemlösung anbieten.“
Für alltägliche Wartungen und besondere Ereignisse sind am Gotthard die Erhaltungs- und Interventionszentren in Biasca und Erstfeld eingerichtet. An beiden Standorten hat ABB je eine unterbrechungsfreie Stromversorgungsanlage vom Typ USV Conceptpower DPA 250 installiert. „Der modulare Aufbau der USV sichert die Hochverfügbarkeit. Je drei Module sind dem 50-Hz-Ortsnetz und dem 16,7-Hz-Bahnnetz zugeordnet. Bahn- und Ortsnetz sind wechselseitig redundant und ersetzen sich bei Bedarf“, sagt Markus Steiner, Leiter Verkauf USV bei ABB Schweiz. „Falls beide Netze ausfallen sollten, liefert die Batterie eine Stunde lang eine Leistung von 90 kVA – das entspricht ungefähr dem Bedarf von 60 haushaltsüblichen Haarföhnen.“ Um möglichst ökonomisch mit dem Batteriestrom umzugehen, werden bei etwaigen Störungen nur die wichtigsten, lebensnotwendigen Funktionen wie Telekom-Anlagen, Bahnleittechnik, UKV-Netzwerk, Server und Gebäudeleittechnik von der USV gespeist. Und auch beim Ausblick in die bahntechnische Zukunft spielt eine ABB-Leistung eine zentrale Rolle: Wenn zukünftig Schnellzüge des Modells EC250 von Stadler auf der Strecke von Frankfurt am Main nach Mailand den Gotthard-Basistunnel durchfahren werden, ist der bisher größte von ABB in Turgi entwickelte und produzierte Umrichter an Bord im Einsatz.