Automobilindustrie: Scheitert die Mobilitätswende?

Gefällt mir
Bookmark
Intro

Die Automobilindustrie ist in einem tiefgreifenden Transformationsprozess: Unterbrochene Lieferketten, steigende Energiepreise, Umstieg auf batterieelektrische Antriebe, Fachkräftemangel. Die Liste ließe sich noch um zahlreiche weitere Punkte ergänzen. Gemeinsam mit dem Branchenmagazin Automotive Manufacturing Solutions haben wir 600 Branchenexpertinnen und -experten von Fahrzeugherstellern, Zulieferern und aus der Entwicklung befragt, wie sie diese Herausforderungen einschätzen und bewerten. Wir haben mit Jörg Reger, Leiter der globalen Business Line Automotive bei ABB Robotics, gesprochen, um die Ergebnisse einzuordnen.

COVID-19 hat die globalen Lieferketten auseinandergerissen und gerade der Automobilindustrie zusätzliche Aufgaben ins Pflichtenheft diktiert. Wie hat die Branche auf die neue Konstellation reagiert?

„Die Straße ist das Lager“, war lange Zeit das Mantra der Automobilindustrie. Entsprechend perfektioniert wurden in den letzten Jahren die Just-in-Time-Ansätze. Supplier lieferten Komponenten oder Karosserieteile teilweise minutengenau. Die Pandemie hat das Prinzip der schlanken Fertigung jedoch auf den Kopf gestellt. Die Lieferketten brachen ab, und da es keinen Lagerbestand gab, geriet die Produktion ins Stocken. Die Industrie hat daraus gelernt und einen Paradigmenwechsel eingeläutet: Das neue Credo lautet, sich für ungeplante Unterbrechungen zu schützen und autarker zu werden. Verkürzt könnte man sagen: Aus Just-in-time wird Just-in-case. Das bedeutet, die strategische Bevorratung mit wesentlichen Teilen und Materialien ist ein essenzieller Teil der neuen Resilienz-Strategie von Automobilunternehmen. Die verstärkte Lagerhaltung und die Abnahme großer Mengen soll helfen, die Risiken zu begrenzen, die durch Störungen in der Lieferkette entstehen. Zudem verhindern die Hersteller Abhängigkeiten und erweitern ihr Lieferantennetzwerk, um eine ausreichende Verfügbarkeit von Teilen zu gewährleisten.

Auch sehen wir, dass die Unternehmen ihre Produktion sukzessive zurück ins Inland oder ins nahe Ausland verlagern, um ihre Lieferketten robuster zu gestalten. Laut einer Umfrage, die wir vergangenes Jahr unter 1.610 US-amerikanischen und europäischen Unternehmen durchgeführt haben, planen 74 Prozent der Befragten aus Europa ein sogenanntes Re- oder Nearshoring ihrer Produktion.

Über Jörg Reger

Jörg Reger

Jörg Reger ist ein Urgestein von ABB: Seit 1994 ist er für das Unternehmen in unterschiedlichen Führungspositionen tätig. Seit 2020 verantwortet der studierte Verfahrenstechniker die globale Business Line Automotive bei ABB Robotics. Privat ist der Familienvater sportlich unterwegs und entweder beim Joggen oder auf ausgiebigen Wandertouren anzutreffen.

Der Ausstieg aus der Verbrennertechnologie ist beschlossen. Ist die Automobilindustrie für den Mobilitätswandel gerüstet?

Auch wir haben uns die Frage gestellt, doch da wir keine Auguren sind, haben wir die Studie in Auftrag gegeben. Immerhin 59% der Befragten gab an, dass das übergeordnete Ziel, E-Fahrzeuge innerhalb der gesetzlichen Fristen auf den Markt zu bringen, schlichtweg nicht erreichbar ist. Die Zahl ist alarmierend. Und die Argumente, die angeführt werden, sind valide: Die Befragten Hersteller und Zulieferer wiesen auf die Herausforderungen bei der Anpassung an neu zu etablierende Batterie-Lieferketten hin. Zudem gibt es berechtige Bedenken hinsichtlich der hohen Investitionen, die erforderlich sind. Ebenso wird angeführt, dass es für das Hochskalieren der Batterieproduktion schlichtweg an den erforderlichen Rohstoffen und der geeigneten Infrastruktur sowie Netzkapazitäten mangelt: Mehr als ein Viertel (26 Prozent) der Befragten nannten die fehlende Ladeinfrastruktur als größte Hürde für die Einführung von E-Fahrzeugen. Es ist leicht, politische Visionen zu entwickeln. Doch Unternehmen denken nicht von Wahl zu Wahl, sondern müssen langfristig wirtschaftlich agieren.

Die wesentlichen Ergebnisse der Umfrage

Prozent
sind besorgt über steigende Material- und Komponentenpreise
Prozent
nennen anhaltende Engpässe in der Lieferkette als ihre größte Sorge
Prozent
glauben, dass der Zeitplan für die vollständige EV-Produktion unrealistisch ist
Prozent
sehen den Fachkräftemangel als die wichtigste Herausforderung für ihre Produktion

Deutschland steht demographisch vor einem großen Einschnitt, da die geburtenstarken Jahrgänge in den kommenden Jahren in Rente gehen. Führt dies unweigerlich zu einem verschärften Fachkräftemangel im Automobilsektor?

Unsere Studie gibt auch zu dieser Frage interessante Einblicke. Die Human Resources sind eine zentrale Herausforderung für OEMs und Zulieferer. Dazu zählen steigende Personalkosten, aber auch der zunehmende Fachkräftemangel. So sah etwa ein Drittel der Befragten den Arbeitskräftemangel als eine der drei größten Herausforderungen. Um den „war for talents“ zu gewinnen, müssen attraktive Pakete geschürt werden. Entsprechend gehen 35 Prozent von stark steigenden Personalkosten aus. Traditionelle Vorstellungen rücken die Automobilproduktion leider bei Arbeitnehmenden teilweise in ein negatives Licht. Doch mit intelligenter Automatisierung, künstlicher Intelligenz und einem verstärkten Einsatz von Virtualisierung gehört die Branche mittlerweile zu den interessantesten und fortschrittlichsten Arbeitsbereichen unserer Wirtschaft. Fakt ist aber auch, dass wertvolles Wissen mit dem demographischen Wandel verloren geht. So klagen über die Hälfte – nämlich 56 Prozent – über unzureichende Fachkenntnisse am Markt.

Und wie hilft ABB die Automobilhersteller und deren Zulieferer, all diese Herausforderungen zu meistern?

Bleiben wir beim Thema Fachkräftemangel. Eine systematische Aus- und Fortbildung sowie regelmäßige Schulungen sind ein Schlüssel, das Personal zu qualifizieren. Unser Beitrag: Wir haben mit Schulen und Hochschulen rund um den Globus Programme entwickelt, um Schülerinnen, Schülern und Studierenden Automatisierungs- und Softwarekenntnisse zu vermitteln. Unsere Outreach-Programme bieten jungen Menschen frühzeitig die Möglichkeit, spielerisch mit Robotern zu interagieren, um ihr Interesse zu wecken. Die PixelPaint-Lösung von ABB wurde beispielsweise mit Unterstützung eines Studierenden der norwegischen Universität Stavanger entwickelt. Und auch beim Umstieg auf Elektromobilität sind wir ein gefragter Partner der Automobilindustrie. So ist ABB Robotics führend in der Entwicklung und Umsetzung flexibler, modularer Fertigungszellen, die digital vernetzt sind und von intelligenten, autonomen mobilen Robotern versorgt werden. Die flexiblen Fertigungszellen zahlen auf ein strategisches Ziel ein: Den evolutionären Übergang von Verbrennern zu Elektroantrieben. Denn die Fertigungszellen können – entsprechend der Nachfrage nach einem bestimmten Fahrzeug – auf- oder abwärts skaliert oder innerhalb eines Werks umplatziert werden. Dadurch lassen sich die Investitionsausgaben deutlich senken, und die Automobilindustrie kann parallel Verbrenner- und E-Autos produzieren. Bei der Implementierung stellt die Programmier- und Simulationssoftware RobotStudio von ABB sicher, dass die Produktion nicht unterbrochen werden muss. Insgesamt ist Automatisierung der Schlüssel zum Markterfolg. Sie schafft mehr Resilienz, Effizienz und Schnelligkeit in der Fertigung. Mit robotergestützten Lösungen gelingt es, die Bauzeit signifikant zu verkürzen, die Flexibilität zu erhöhen, den Produktionsprozess weiter zu vereinfachen und letztlich die Produktionskosten zu senken.