Künstliche Intelligenz: Droht ein neuer KI-Winter?

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Durch ChatGPT, Google Bart oder Alexa wurde Künstliche Intelligenz einem breiten Publikum präsent und zugänglich gemacht. Doch ist Künstliche Intelligenz kein wirklich neues Thema – die historischen Wurzeln reichen bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts (siehe Beitrag Künstliche Intelligenz: Hype – oder gekommen, um zu bleiben?). Auf Phasen der Euphorie darüber, wie KI Wirtschaft und Gesellschaft verändern, gar revolutionieren könnte, folgten jeweils Phasen der Ernüchterung. Diese werden in der Forschung auch „KI-Winter“ genannt. Wir sprachen mit Gianluca Manca, KI-Experte bei ABB und für das ABBForschungszentrums in Ladenburg tätig, über aktuelle KI-Entwicklungen, seine Rolle bei ABB und ob ein weiterer KI-Winter bevorsteht. 

Herr Manca, Künstliche Intelligenz ist ein heiß diskutiertes Thema und gilt als Schlüsseltechnologie der Zukunft. Allerdings scheint es, dass wenige Industrieunternehmen KI-Technologien im Einsatz haben. Wie erklären Sie diesen Widerspruch? 

Es ist derzeit enorm viel Bewegung im Markt und ich sehe diesen scheinbaren Widerspruch nicht. Denn Digitalisierung gleicht eher einem Marathon als einem Sprint. Wir befinden uns am Anfang einer umfassenden Entwicklung. Bei KI geht es zunächst um Orientierung und Verständnis, nicht um vorschnelle Implementierung. Viele verstehen unter „KI“ lediglich ein Schlagwort, ohne die tatsächlichen Anwendungen zu kennen. 
 

Gibt es denn eine Art Best-Practice, wie Industrieunternehmen das KI-Thema erfolgreich anpacken? 

Zunächst sollte das Ziel definiert werden: Wo liegen die Einsatzmöglichkeiten und erhofften Vorteile von KI für das Unternehmen? Dann folgt die Analyse der vorhandenen Daten hinsichtlich Qualität und Verfügbarkeit. Anschließend ist die verfügbare oder benötigte Technologie zu bewerten und zu prüfen, ob man inhouse entwickelt oder off-the-shelf verfügbare kommerzielle Anwendungen nutzt. Wichtig ist auch die Überlegung, ob neues Personal eingestellt oder bestehendes geschult werden muss. Zudem müssen Prozesse von Daten-Governance bis hin zur Zuständigkeitsverteilung definiert werden. Auch das Mindset spielt eine wichtige Rolle. So kann eine digitale Kultur im Unternehmen entscheidend sein für den Erfolg der KI-Implementierung. 

 

Was sehen Sie als die größten Herausforderungen oder Hemmschuhe? 

Ich sehe die größte Herausforderung im Mindset und den Erwartungen an KI. Aus meiner Sicht ist das richtige Erwartungsmanagement entscheidend, um einen weiteren KI-Winter zu vermeiden. Wir beobachten oft überzogene Erwartungen an KI, gefolgt von Ernüchterung, wenn diese nicht erfüllt werden. Weiterhin ist der eigene Reifegrad des Unternehmens zu berücksichtigen: technische Ausstattung, notwendige Anschaffungen und der Mehrwert hinsichtlich des definierten Ziels. Auch die Qualifikation der Mitarbeitenden und die Schaffung von Vertrauen in KI sind zentral.  

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist: Es geht nicht um einmalige oder isolierte Leuchtturmprojekte, sondern darum, KI dauerhaft in die Produktion einzuweben. Mit MLOps – kurz für Machine Learning Operations – bekommen Projekte einen Lebenszyklus. MLOps legt den Schwerpunkt auf die Prozessoptimierung bei der Überführung von Machine-Learning-Modellen in die Produktion sowie auf deren anschließende Wartung und Überwachung. In einem solchen iterativen Prozess wird ständig geprüft und hinterfragt, ob das Modell noch zu den Daten und den Prozessen passt. Gibt es beispielsweise neue Sensoren, hat dies Auswirkungen auf das Modell.  

Was ist ein KI-Winter?

In der Geschichte der Künstlichen Intelligenz folgten auf Phasen der Euphorie und der hohen Erwartungen Perioden der Ernüchterung und Rückschläge, auch KI-Winter genannt. Seit den Anfängen der KI-Forschung in den 1950er Jahren hat es zwei bedeutende Perioden des Abkühlens gegeben. Der erste dieser KI-Winter begann in den frühen 1970er Jahren, als eine Reihe von Enttäuschungen auftraten, da die tatsächlichen Fortschritte in der KI-Forschung nicht den hohen Erwartungen entsprachen. Dies führte insbesondere in den Vereinigten Staaten zu einer Reduzierung der Forschungsförderung.

Obwohl das Interesse an Künstlicher Intelligenz in den 1980er Jahren aufgrund des zunächst scheinbar erfolgreichen Erscheinens von Expertensystemen wieder anstieg, folgte gegen Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre ein weiterer KI-Winter. Die Erwartungen wurden wiederum nicht erfüllt, als sich zeigte, dass regelbasierte Systeme nicht die erwartete Leistungsfähigkeit erreichten. 

Wie können Industrieunternehmen beginnen, KI effektiv zu nutzen?

Für Industrieunternehmen ist es entscheidend, mit zielgerichteten und realistischen KI-Projekten zu beginnen, die spezifische Herausforderungen oder Prozessverbesserungen adressieren. Sie könnten mit der Optimierung von Produktionslinien durch prädiktive Wartung beginnen oder KI in der Qualitätssicherung implementieren. Ein Anwendungsbereich ist der Connected Worker, eine Weiterentwicklung des Augmented Operators. KI arbeitet Zeitreihendaten so auf oder entdeckt Anomalien, dass sie dem Bediener einer Anlage als Entscheidungsgrundlage dienen.

 

Was ist aus Ihrer Sicht der nächste Entwicklungsschritt?

Der logische nächste Schritt sind multimodale Modelle, die sich nicht nur auf einen Datentyp konzentrieren, sondern diverse Datentypen aus heterogenen Datenquellen heranziehen. Dazu zählen etwa Zeitreihendaten von Sensoren, tabulare Daten, Videodaten oder Operatordaten in natürlicher Sprache. Stand jetzt braucht man einzelne Modelle oder komplexe Vorverarbeitungs-Pipelines, um eine zentrale Sicht zu erhalten. Der Vorteil von multimodalen Modellen liegt in ihrer Fähigkeit, ein umfassenderes und nuancierteres Verständnis von komplexen Anfragen oder Daten zu erlangen, indem sie unterschiedliche Arten von Informationen gleichzeitig berücksichtigen. Hier sehen wir ein großes Interesse in der Industrie und bereits erste Entwicklungen.

Wie sah denn Ihr Weg in die KI und zu ABB aus? 

Ich bin studierter Maschinenbauingenieur und habe zudem ein Zweitstudium im Bereich Wirtschaftsinformatik abgeschlossen. Hier lag mein Fokus auf Data Science. Ich begann an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg zu forschen und in diesem Zuge entstand der Kontakt zu ABB. In einem gemeinsamen Projekt gingen wir der Frage nach, wie wir Data Science bei der Analyse von abnormalen Situationen in Prozessanalagen anwenden können. Als dann eine Stelle bei ABB im Forschungszentrum im Team von Industrial AI ausgeschrieben war, habe ich mich beworben und den Zuschlag bekommen. 

 

Was reizt Sie an Ihrem Job? 

Es gibt mehrere Aspekte. Besonders reizvoll finde ich, dass wir am Forschungszentrum angewandte Forschung betreiben. Wir arbeiten industrienah an echten Problemen, die unsere Kunden bewegen. Zudem finde ich es als Maschinenbauingenieur spannend, große Maschinen und Anlagen sicherer, umweltfreundlicher und effizienter zu machen. Mit den Themen von ABB – Reduzierung des CO22-Ausstoßes, Elektrifizierung, Digitalisierung – kann ich mich sehr gut identifizieren. Zudem sind wir inhaltlich am Puls der Zeit, arbeiten mit den neuesten Methoden und Modellen und sind auf den wichtigsten Konferenzen weltweit dabei. Dies ist mit interessanten Reisen und Einblicken verbunden. So war ich vor kurzem in Schweden und habe zusammen mit ABB Kollegen aus unserem schwedischen Forschungszentrum in Västerås die Implementierung eines Modells in einer Zellstofffabrik überprüft.  Ein weiterer Aspekt, der mich besonders anspricht, ist die Arbeit innerhalb eines vielfältigen Teams. Im Forschungszentrum in Ladenburg bilden wir ein dynamisch wachsendes Team, das eine breite Palette von Disziplinen umfasst. Zudem arbeiten wir in unseren Projekten eng mit anderen ABB Corporate Research Centers zusammen. Diese interdisziplinäre Zusammenarbeit ermöglicht es mir täglich Neues zu lernen und ständig über den Tellerrand hinauszublicken.