Energie­trans­formation: Auf dem Weg zu einer dezentralen Energie­landschaft

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Atakan Özcay ist Local Division Manager bei ABB Energy Industries in Deutschland und hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Energiewende, die inzwischen gesamtgesellschaftliche Auswirkung hat, voranzubringen. “Wir sind Energiewende” ist sein strategischer Ansatz, mit dem er zukunftsweisende Technologie zur CO2-neutralen Fertigung sowie verlässliche Lösungen von der Prozessleittechnik bis zum innovativem Energiemanagement für maximale Energieeffizienz etabliert. Welche Chancen und Risiken sieht er in der Energietransformation? Und welche Herausforderungen gibt es zu meistern? Diese und weitere Fragen besprach Atakan Özcay im Interview mit unserem Redaktionsteam.

Die Energietransformation wird als Chance, jedoch auch als Risiko gesehen. Wie stehen Sie zur Energietransformation?

Aus dem Blickwinkel des Ingenieurs finde ich die Energietransformation einfach nur spannend. In meiner Berufslaufbahn gab es keine damit vergleichbare Aufgabe. Das weckt meine Neugier und meine Kreativität. Der Umbau der deutschen Energielandschaft ist eine Mammutaufgabe, die unsere komplette wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und Kompetenz erfordert. Für eine erfolgreiche Energietransformation ist eine enge Verzahnung von Politik, Industrie und Forschung notwendig mit dem Ziel neue Lösungen zu finden, ohne sich an dogmatischen Themen festzubeißen. Deutschland ist dafür gut aufgestellt. Ich sehe aber auch die große Unsicherheit, die durch die Veränderung gerade an den Standorten der heutigen Kraftwerke vorhanden ist. Ich bin der festen Überzeugung, dass in der Energietransformation gerade für diese Standorte auch eine große Chance liegt. Die Standorte sind ideal dazu geeignet, Teil der neu entstehenden Energieinfrastruktur in Deutschland zu werden. Denn die Infrastruktur und das Gelände sind vorhanden, die Anbindung an die Netze ist gut ausgebaut und nicht zuletzt verfügen die Standorte über das hervorragend ausgebildete Personal.

Welche Herausforderungen gilt es zu meistern?

Aktuell und für die nächsten Jahre ist die begrenzte Verfügbarkeit von regenerativ erzeugtem Strom der wesentliche Engpass für die Energiewende. Selbst bei einem massiven Ausbau der Erzeugerkapazität in den nächsten Jahren wird sich diese Rahmenbedingung nicht grundlegend ändern. Deshalb ist es so wichtig, regenerative Energie möglichst flächendeckend dezentral in Deutschland aufzubauen.

Aufgrund der aktuellen Ausbaupläne ist davon auszugehen, dass die Verfügbarkeit „grüner Energie“ in Norddeutschland wesentlich schneller vorangeht als in Süddeutschland. Das heißt das Ungleichgewicht hat sich vergrößert. Bereits heute werden Investitionsentscheidungen davon beeinflusst.

Was sind die Folgen dieses Ungleichgewichts?

Kurzfristig führt das zu einer Situation, in der in einem Bereich von Deutschland der verfügbare Strom aus regenerativen Quellen zu großen Teilen oder sogar dauerhaft über dem lokalen Verbrauch liegen wird und in einem anderen Teil von Deutschland umgekehrt. Der Ausbau der Netze und die Verlagerung von Verbraucherkapazität in den Norden kann dabei helfen dieses Ungleichgewicht abzumildern, letztendlich geht es aber um den Umbau der kompletten Energielandschaft. Eine neue integrierte Energielandschaft, die auf diesen Grundsätzen basiert, ist damit in der Lage, die drei wesentliche Anforderungen zu erfüllen. Erstens, die Beherrschung der starken Volatilität der Verfügbarkeit regenerativer Energiequellen – insbesondere Wind und Sonne – durch ein verteiltes Netz an Speicherkapazitäten. Zweitens die Versorgung eines komplexen Marktumfeldes für die neuen Energieträger elektrische Energie, Wärme und grüne Moleküle. Und schließlich drittens die optimale technische und kommerzielle Integration der Bereiche Erzeugungsanlagen, Transportsystem und Speicherkapazitäten.

Wie kann man sich diese neue Energielandschaft konkret vorstellen?

Lassen Sie mich ein Beispiel nennen – die dezentrale Energiefabrik. Standorte für dezentrale Energiefabriken zeichnen sich durch eine hohe Verfügbarkeit von regenerativen Energiequellen aus, die weit über dem mittleren lokalen Verbrauch liegen. Paradebeispiel ist eine mittelgroße Gemeinde in Mecklenburg-Vorpommern oder in der Eifel, die von großen Windpark- oder Solaranlagen umgeben ist. Ziel der Energiefabrik ist die vollständige Nutzung der verfügbaren regenerativen Energie zu jedem Zeitpunkt. Für die Nutzung der regenerativen Energie kommt eine Kombination aus direktem lokalem Verbrauch, der Speicherung in einer Batterie als kurzfristiger Speicher und der Verwendung in einer Produktionsanlage für grüne Moleküle zum Einsatz. Dezentrale Energiefabriken eignen sich insbesondere für die Versorgung von Städten und Gemeinden mit angeschlossenen Industriegebieten. In diesen Fällen kann der Gesamtwirkungsgrad der Anlage noch einmal verbessert werden, wenn man die entstehende Prozessabwärme aus der Produktionsanlage der grünen Moleküle zur Wärmeversorgung der Gemeinde nutzen kann.

Und was sind in der Praxis die Stolpersteine für dezentrale Energiefabriken?

Es gibt leider einige Hindernisse bei der Umsetzung der Energiefabriken. An erster Stelle ist ein regulatorisches Hindernis zu nennen. Bereits geförderte Windparkanlagen können erst nach dem Förderzeitraum genutzt werden. Zweitens wird die Finanzierung der Anlagen als unsicher empfunden, da die kommerziellen Rahmenbedingungen – etwas langfristige Abnahmegarantien – unklar sind. Und zuletzt müssen sich Betreibergesellschaften finden, die das finanzielle Risiko dieser Anlagen tragen wollen bzw. können und sich vor dem Projekt durch lange Genehmigungsprozesse arbeiten müssen.

Wo stehen die deutschen Industrieunternehmen?

Viele Industrieunternehmen haben bereits den Prozess der Energietransformation gestartet. Durch das ab 2025 gesetzlich vorgeschriebene Berichtswesen wird sich die Dynamik in diesem Thema sicherlich noch einmal erhöhen. Aus meiner Sicht geht es in diesem Bereich um die Überlebensfähigkeit der deutschen Industrie. Wenn uns dieser Prozess als erstes großes Industrieland gelingt, können wir über Jahre hinweg einen Wettbewerbsvorteil erlangen. Deshalb wünsche ich mir hier mutige Entscheidungen für den Standort Deutschland.

Atakan Özcay, Local Division Manager bei ABB Energy Industries Deutschland.

Wie werden sich die Verteilernetze verändern?

In den nächsten Jahren wird sich die Struktur und die Nutzung der Verteilnetze in Deutschland massiv verändern. Zum einen wird die private und gewerbliche Erzeugung von regenerativer Energie stark zunehmen, gleichzeitig wird aber auch der Bedarf an regenerativer Energie in der Fläche für die Wärmeerzeugung und die Elektromobilität ansteigen. In einem flexiblen Verteilnetz kann jeder Teilnehmer gleichzeitig Erzeuger und Nutzer werden. So können Privatpersonen in einer Straße die vorhandene Speicherkapazität privater Batterieanlagen gemeinsam nutzen. Stadtwerke können zentrale Batterieanlagen zur Verfügung stellen, um mögliche Überschüsse aus der privaten Solaranlage aufzunehmen, um sie dann später wieder einer lokalen Nutzergemeinschaft zur Verfügung zu stellen. Das gleiche Prinzip kann für zentrale und dezentrale Wärmeversorgungseinheiten angewendet werden.

Durch die Realisierung dezentraler selbstregelnder Verteilnetze kann außerdem die gesamte Netzstabilität verbessert werden.

Abschließend, welche Botschaft möchten Sie unseren Lesern mit auf den Weg geben?

Die Energiewende ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit, aber auch eine enorme Chance. Wir alle sind gefragt, unseren Beitrag zu leisten – sei es durch die Unterstützung innovativer Technologien oder durch bewussteres Verbraucherverhalten. Es ist an der Zeit, gemeinsam eine nachhaltige Zukunft zu gestalten.