Tin Lizzie: Was die Chemische Industrie von Fords Model T lernen kann

Gefällt mir
Bookmark
Intro

Automatisierung ist der Schlüssel für erfolgreiche Produktion mit hohen Durchsätzen. In einem immer dynamischeren Markt braucht es heute jedoch mehr. Um das Scale-up zu beschleunigen, Anlagen flexibler zu gestalten und schneller auf Kundenanforderungen zu reagieren, entdeckt die chemische Industrie die Modularisierung.

Der Erfolg des Automobils hing von zwei Innovationen ab: Fließbandfertigung und austauschbare Teile. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren beide Ideen so neu, dass Ford die Austauschbarkeit aller Bauteile des ersten Autos vom Fließband sogar ganz anschaulich unter Beweis gestellt hat: In einer öffentlichkeitswirksamen Vorführung wurden die Einzelteile zweier baugleicher Fahrzeuge auf einen Haufen geworfen und anschließend wieder zusammengebaut.

Millionenfach produzierte Bauteile, untereinander nicht unterscheidbar und immer mit denselben Eigenschaften: Was vor über hundert Jahren undenkbar war, erscheint heute selbstverständlich. Doch was kann die Prozessindustrie heute noch von der „Tin Lizzie“ lernen, wie das bis 1927 hergestellte Fahrzeug genannt wurde? Eigentlich ist es ein Allgemeinplatz – und eine der Grundlagen der Industrialisierung: Standardisierte Produkte, die in Masse hergestellt und auf Lager gehalten werden können, sind schneller und preiswerter zu beschaffen.

Bei der Standardisierung der Anlagen ist noch viel Luft nach oben

Dennoch gibt es in der Industrie viele Bereiche, in denen Standardisierung noch nicht im vollen Umfang Standard ist: zum Beispiel im Anlagenbau. Was die chemische und die pharmazeutische Industrie für die Produktion ihrer Waren nutzen, ist immer noch Maßarbeit. Dabei könnten vom Wäscher über den Trockner bis hin zur Kolonne zahlreiche Verfahren von Standardisierung profitieren.

Es sind längst nicht nur die Kosten, die für eine Standardisierung der verfahrenstechnischen Infrastruktur sprechen. Modulare Anlagen, die aus standardisierten Komponenten bestehen, können Betreiber auch darin unterstützen, in einem zunehmend anspruchsvolleren Entwicklungs- und Produktionsumfeld erfolgreich zu bleiben. Schließlich reduziert ein modularer Ansatz auch die Komplexität und somit den Aufwand für die Anlagenplanung und das Engineering. Und wer seine Anlagen einfacher, schneller und kostengünstiger planen und bauen kann, führt seine Produkte letztlich schneller in den Markt ein und kann neben der Time-to-market auch bei Qualität und Nachhaltigkeit punkten. Damit ist die Erhöhung der Flexibilität von Produktionsanlagen eine der zentralen Antworten auf die sich immer schneller ändernden Marktanforderungen in Chemie & Pharma.

Module Hardware braucht kompatible Software

Was aber sind die Hürden für die Flexibilisierung der Produktion? Wer weiche Faktoren vermutet, liegt zumindest nicht ganz falsch: Mancher Hersteller ist überzeugt, seine Prozesse seien zu speziell – und geheim –, um auf standardisierten Anlagen zu laufen. Gerade mit Blick auf die Produktion von Basischemikalien läuft die Vermutung jedoch ins Leere: Anders als bei der Herstellung von Spezialchemikalien werden hohe Volumina von mehreren 100.000 Tonnen pro Jahr erreicht, und zwar mit kontinuierlichen Verfahren, die allseits bekannt sind. Sie sind also weder geheim, noch unterscheiden sie sich von Unternehmen zu Unternehmen wesentlich.

Ob mit Rohrleitungen oder Förderbändern – hardwareseitig lassen sich diese einzelnen Verfahrensschritte zudem einfach miteinander verbinden. Es ist vielmehr die Software, der es noch an Offenheit mangelt. Schließlich spiegelt die Steuerungs- und Regelungsintelligenz bislang die Eigenschaften der physischen Anlage wider, die mit Hilfe des Prozessleitsystems betrieben wird: Sie ist hochgradig spezialisiert und bietet keine offenen Schnittstellen. Schließlich waren diese lange Zeit auch nie gefragt.

Offene Schnittstellen für nahtlose Zusammenarbeit

An diesem Problem setzt die Idee von MTP an: Module Type Package ist eine herstellerunabhängige Schnittstelle, die der Standardisierung in der prozesstechnischen Produktion zum Durchbruch verhelfen soll. Entsprechend breit ist die Unterstützung dieser übergeordneten Automatisierungsebene für Prozessmodule: Neben der Nutzerorganisation Namur und der Herstellerorganisation ZVEI sind auch der VDMA und Process Net eingebunden.

Gemeinsam mit Herstellern arbeiten die Organisationen daran, die chemische Industrie fit für die modulare Produktion zu machen und die Voraussetzungen zu schaffen, dass

  • sich modulare Prozesseinheiten von Anfang an miteinander kombinieren lassen,
  • Module für das Up-Scaling vervielfacht werden können,
  • die Qualifizierung der einzelnen Prozesse vereinfacht wird,
  • bestehende Anlagen mit Modulen oder Package Units schnell erweitert werden und
  • einmal genutzte Module für neue Prozesse erneut zum Einsatz kommen können.

Um diese Anforderungen zu erfüllen, umfassen Module Type Packages alle nötigen Aspekte der Produktion: von der Prozessüberwachung und Mensch-Maschine-Schnittstellen (Human Machine Interface, HMI) über Wartung und Diagnose, Safety und Security, bis hin zu Alarmmanagement und weiteren Disziplinen. Die Tauglichkeit für den realen Anlagenbau und -betrieb hat MTP in mehreren Pilotprojekten bei Anwendern unter Beweis gestellt – die Idee von Plug & Produce ist somit in der Realität angekommen.

Anwendungsnahe Lösungen für die Prozessindustrie

Um die Hersteller in der chemischen und pharmazeutischen Produktion dabei zu unterstützen, Kosten zu sparen, Risiken zu reduzieren, besser zu planen und schneller auf die Anforderungen ihrer Kunden reagieren zu können, bietet auch ABB digitale Technologielösungen für die modulare Automatisierung an. Bereits 2018 haben wir im Rahmen der Achema die erste MTP-Lösung vorgestellt, die eine Orchestrierungsebene und eine Modulebene miteinander verbindet.

Dabei nutzen wir unsere Position an der Schnittstelle aller Bereiche der Prozessautomatisierung: ABB bietet nicht nur Komponenten an, sondern auch Maschinensteuerungen, Leitsysteme und andere Steuerungstechnologien. Bei der Entwicklung zur modularen Automation stehen wir mit diesem Hintergrund an der Speerspitze: Lösungen von ABB für die Standardisierung von Herstellungsprozessen umfassen HMIs, Prozessüberwachung und -steuerung, Verlauf, Diagnose und Archivierung. Auch unsere Steuerung ist bereits seit Jahren in der Lage, mit der MTP-Technologie zu arbeiten.

Vorautomatisierte Module von ABB können einfach hinzugefügt, angeordnet und an die Anforderungen der Produktion angepasst werden. Über die Orchestrierungsebene wird der Betrieb der Module überwacht, gesteuert und verwaltet. Mit ABB Ability System 800xA werden die intelligenten Module orchestriert und der Prozess gesteuert.

Die effiziente, flexible Produktion der Zukunft

Ob Automotive oder chemische Industrie: Offene Schnittstellen erhöhen die Flexibilität und Effizienz in der Produktion und schaffen die Basis für Standardisierung und modulare Systeme. Module Type Package versetzt Betreiber in Chemie & Pharma in die Lage, ihre Anlagen mit Prozessmodulen und Package Units schneller als je zuvor an die Anforderungen des Marktes anzupassen.

In einem dynamischen Wettbewerbsumfeld wird diese Aufstellung künftig zum Schlüsselelement für langfristigen Erfolg. Effiziente MTP-Lösungen von ABB für die modulare Automation unterstützen Betreiber von Prozessanlagen entlang der gesamten Wertschöpfungskette – vom Konzept bis hin zum Regelbetrieb.

Mehr zu Modulare Automation mit ABB

Alles über Hintergründe und den aktuellen Zwischenstand von MTP – im Statusbericht von Namur, Process Net, VDMA und ZVEI.