Vernetzt & klimaneutral: Wie die digitale Trans­for­ma­tion zur All Electric Society gelingen kann

Gefällt mir
Bookmark
Intro

Die Industrie muss sich wandeln, um die Bedürfnisse der Umwelt und der Menschen zu erfüllen. Die industrielle Transformation steht für ABB schon immer im Mittelpunkt des Handelns. Wieso Nachhaltigkeit und CO2-Neutralität der beste Grund für Digitalisierung sind, erklären Stefan Basenach (Local Division Manager Energy Industries) und Kai Garrels (Head of Standardization and Industry Relations, Electrification) im Interview.

Über Digitalisierung und die digitale Transformation der Industrie wird seit Jahren gesprochen. Wieso ist 2023 trotzdem anders als die Jahre zuvor?

Stefan Basenach: Digitalisierung war lange ein sehr abstraktes Thema. Mit der digitalen Vernetzung der Welt und dem Ziel der CO2-Neutralität sind nun aber zwei große Anwendungen entstanden, die dieses technische Thema veranschaulichen und relevant machen – gesellschaftlich, politisch und industriell. War die Idee zuvor eher, die Produktivität noch ein paar Prozentpunkte zu erhöhen, zeichnet sich nun ab, dass der Industriestandort komplett auf den Kopf gestellt werden wird, um klimaneutral zu werden. Ohne Digitalisierung und Vernetzung wird das nicht funktionieren.

Kai Garrels:  Alles dreht sich dabei um unternehmensübergreifende Zusammenarbeit. Auf der Hannover Messe, die im April stattfand, war das z.B. sehr deutlich spürbar. Dort ging es nicht um Insellösungen einzelner Anbieter, sondern um gemeinsame Demonstratoren mit Beispielen für den industriellen Klimaschutz. Ein Beispiel ist der ProductCarbonFootprint Showcase im ZVEI: ABB ist an diesem Demonstrator beteiligt, der zeigt, wie einzelne Hersteller ihre Produktinformationen an einen Systemintegrator weitergeben können. Dieser aggregiert alle Informationen zu einem Gesamt-CO2-Fußabdruck, der alle Ressourcen- und Energieverbräuche umfasst.

Kai Garrels ist seit 1986 bei ABB und Experte für Standardisierung, Nachhaltigkeit und Digitalisierung.

Kann man also sagen, die drei großen Themen CO2-Neutralität, Energiemanagement und Industrie 4.0 greifen heute und in Zukunft zwangsläufig ineinander?

Stefan Basenach: Absolut. Das Energiemanagement ist dabei der Bereich, in dem sich verschiedene Sektoren, die bisher getrennt gefahren werden konnten, am schnellsten vernetzen. Industrielle Verbraucher stellen sich viel bewusster als bisher die Frage: Welche Formen von Energie sind für mich wichtig und wie beziehe ich sie? Großverbraucher wie die chemische Industrie gehen von der Verdreifachung der elektrischen Energieverbräuche von Standorten aus – weil für Prozesswärme künftig Power to Heat genutzt wird, anstatt Gas zu verbrennen. Und gleichzeitig ist der Anspruch dabei natürlich, dass grüner Strom bezogen wird. Daran zeigt sich die Dimension dieser Veränderung.

Da grüne Energiequellen volatiler sind, werden sich in diesem Zuge auch die Energiepreise verändern und selbst im Tagesverlauf schwanken. Deshalb werden viele Großverbraucher eine Eigenproduktion für grünen Strom vorhalten, auf den sie zurückgreifen, wenn ihnen die Energie am Markt zu teuer wird. Spitzen werden abgedeckt und es wird immer das Optimum zwischen Kauf und Eigenerzeugung erzielt.

Kai Garrels: Diese Entwicklung wird auch Auswirkungen auf die industrielle Produktion haben. Ist die Fabrik nicht zu 100 Prozent ausgelastet, werden Batches auf einen anderen Zeitpunkt verlegt, zu dem das Energieangebot wieder besser ist. Der Energiebedarf von Produktionsprozessen wird also eine viel größere Rolle spielen als das heute der Fall ist.

Sind diese Entwicklungen für Großkonzerne einfacher abzubilden als für den Mittelstand?

Kai Garrels: Eine gewisse Größe ist natürlich für alle Maßnahmen erforderlich – und das wird wiederum zu neuen Formen der Vernetzung führen. Ein Fünf-Mann-Betrieb wird vielleicht mit seinen Nachbarn ins Gespräch kommen, um gemeinsam mit ihnen eine Lösung für die Erzeugung von grünem Strom zu finden.

Stefan Basenach: Natürlich baut ein Großkonzern eher seinen eigenen Windpark als ein Mittelständler. Aber die generelle Frage, was man selbst macht und was man anderen überlässt, müssen sich alle Player stellen. Auch der Einstieg in die Wertschöpfungskette wird sich für alle Beteiligten nach vorne verlagern. Für den Mittelstand ist dabei besonders relevant, sich mit der eigenen Energie- und CO2-Bilanz zu beschäftigen. Da geht es dann vielleicht nicht um einen Windpark, sondern ein Solardach. Aber das Grundprinzip – die Beschäftigung mit der Wertschöpfung – ist dasselbe.

Stefan Basenach, Local Division Manager Energy Industries und seit mehr als 25 Jahren bei ABB, ist Experte für die Themen Innovation, Nachhaltigkeit und Digitalisierung

Ist der frühere Wunsch, bei der Energieerzeugung einfach den Schalter auf „grün“ zu stellen, bei den Produktionsprozessen aber alles beim Alten zu belassen, damit Geschichte?

Stefan Basenach: Von dieser Idee hat sich die Industrie in der Tat komplett verabschiedet. Die Unternehmen haben verstanden, dass sie die Volatilität der Energieerzeugung auf ihre Produktionsprozesse übertragen müssen. Diese Erkenntnis spielt eine wichtige Rolle für Anbieter wie ABB, weil daraus ein viel höherer Automatisierungsgrad resultiert als bisher. Denn all diese Flexibilität muss beherrschbar sein. Dafür bieten wir unseren Kunden die passenden elektrischen Systeme: Im Verbund können Superkondensatoren, Batterien und Wasserstoffspeicher Dynamiken von Sekunden bis hin zu Tagen bieten. Automatisierung und Elektrotechnik sind dafür die Schlüsselelemente.

Kai Garrels: Und wenn das nicht im eigenen Unternehmen gelöst wird, sondern in Verbünden, müssen die beteiligten Unternehmen alle Informationen interoperabel austauschen. Dafür brauchen sie die gleichen Protokolle, die gleichen Spielregeln für Cybersecurity und die gleichen Datenmodelle. Genau das befeuern wir im Rahmen der Plattform Industrie 4.0. Um etwa den Energieverbrauch einer einzelnen Maschine zu ermitteln, muss ein einheitliches Verfahren gewährleistet sein. Das haben wir in Hannover mit Exponaten rund um digitale Zwillinge gezeigt. In diesem Kontext ist auch die Bereitstellung von standardisierten Engineering-Daten relevant.

Wie ist bei diesem hohen Grad der Vernetzung sichergestellt, dass alle Daten so zusammenlaufen und ausgewertet werden, dass tatsächlich ein Mehrwert entsteht?

Stefan Basenach: Das Teilen von Daten ist der entscheidende Use Case für die Digitalisierung: Erst auf dieser Basis entstehen neue Geschäftsmodelle, die die gesamte Gesellschaft im Sinne der CO2-Neutralität voranbringen. Das gelingt mit Lösungen wie ABB EcoSolutions, Das Label bietet vollständige Transparenz über die Umweltauswirkungen über den gesamten Produktlebenszyklus hinweg.

Für Anbieter von Produkten mit niedrigen Umweltauswirkungen muss aber auch gewährleistet sein, dass diese sich im Wettbewerb behaupten.

Kai Garrels: Dass ökologisch vorteilhafte Produkte auch wirtschaftlich sind, ist das Ziel. Aufgrund der höheren Herstellungskosten ist bisher jedoch oft das Gegenteil der Fall. Hier werden Zertifikate und Regularien künftig eine große Rolle spielen – dieser Prozess ist bereits gestartet. Die Umweltrelevanz von Bestellungen hat für Unternehmen eine immer höhere Bedeutung. Dieser Prozess wird politisch befördert, in der EU etwa in Form der Taxonomie: Unternehmen müssen sich somit nicht nur Gedanken über den ökologischen Fußabdruck entlang ihrer Lieferkette machen, sondern auch über die Fußabdrücke ihrer Kunden. Als Anbieter werde ich es irgendwann schlicht nicht mehr verantworten können, wenn ein Abnehmer mit meinen Produkten ökologisch nachteilige Prozesse betreibt.

Stehen wir in diesem Sinn an der Schwelle zu einer neuen Dimension des Handels?

Kai Garrels: Ja, denn der ökologische Fußabdruck mit all seinen Facetten wird immer relevanter. Deutlich wird das etwa am Beispiel von Verpackungen: Papier mag Kunststoff bei der CO2-Bilanz übertreffen, aber dafür ist der Land- und Wasserverbrauch bei faserbasierten Verpackungen größer, sodass unterm Strich recycelter Kunststoff die beste Lösung sein kann. Daran wird deutlich, dass Datentransparenz auch heißt, sich nicht nur auf einen Aspekt wie CO2 zu konzentrieren, sondern eine ganzheitliche Betrachtung aller Umweltaspekte nötig ist.

Stefan Basenach: Bisher ist der Preis eines Produkts immer das einzige wesentliche Argument gewesen: Wer am günstigsten liefern kann, kommt zum Zug. Künftig kommen zwei entscheidende Argumente hinzu: der ökologische Fußabdruck und die Datentransparenz über den gesamten Produktlebenszyklus hinweg. Preis, Nachhaltigkeit und vertrauenswürdiger Datenaustausch sind somit die drei wesentlichen Aspekte des zukünftigen Handels. Und dafür ist es entscheidend, dass wirklich alle Daten aller Hersteller zusammenkommen. Diese Anforderung zu erfüllen, steht bei unseren Angeboten heute im Mittelpunkt. Die All Electric Society bietet die richtigen Werkzeuge, um das Ziel zu erreichen.