Elektro-Nutzfahrzeuge: „Eine ein­heitliche Lösung wird es nicht geben“

Ein elektrisches Nutzfahrzeug mit ABB Technik an Bord
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Was Räder hat, fährt elektrisch und hat eine Batterie an Bord. An dieser Zukunftsperspektive gibt es kaum noch Zweifel – zumindest, wenn es um Autos und Lkw geht. Bei größeren Fahrzeugen ist die Zukunft dagegen noch ungewiss. Das ist auch gut so, findet Jonas Horstmann, Sales & Business Development Specialist für den Bereich Traction & Mobile e-Power bei ABB Motion. Im Interview erklärt er, weshalb schwere Nutzfahrzeuge wie Mining Trucks und Baufahrzeuge ebenso von Technologieoffenheit profitieren wie Seilbahnen und Landwirtschaftsgeräte. 

Batterie oder Oberleitung, Kabel, Brennstoffzelle oder E-Fuel: Für schwere Nutzfahrzeuge scheinen die Antriebsmöglichkeiten fast endlos. Woran liegt das? 

Der Grund für diese Vielfalt ist vor allem, dass sich die Rahmenbedingungen bei schweren Nutzfahrzeugen je nach Anwendungsfall stark unterscheiden können. Im Berg- und Tagebau beispielsweise transportieren große Muldenkipper Rohstoffe und fahren dafür unzählige Male am Tag über die gleiche Rampe in die Mine. In einem so vorbestimmten Betrieb kann ein batterieelektrischer Antrieb in Verbindung mit einer Oberleitung sinnvoll sein. Im Straßenbau hingegen sind Wanderbaustellen typisch, die sich täglich einige hundert Meter vorwärtsbewegen. Das bedeutet, die Fahrzeuge sind nie zweimal am gleichen Ort. Ein solches Umfeld ist für die elektrische Ladeinfrastruktur eine viel größere Herausforderung. Hier können deshalb andere Technologien Vorteile haben: etwa Wasserstoff, E-Fuels, auch hybrid in Kombination mit Energiespeichern. Aus diesen Gründen müssen wir mit Blick auf die Elektrifizierung von schweren Nutzfahrzeugen technologieoffen bleiben. Denn eine einheitliche Lösung für alle Anwendungen wird es anders als im Automobilsektor vorerst nicht geben. 

Sind die Anwender offen für solche flexiblen Lösungen zur Elektrifizierung? 

Allgemein beobachten wir ein großes Umdenken. In jedem Segment setzen sich besonders die großen Betreiber ambitionierte Klimaziele. Ihnen ist klar, dass früher oder später kein Weg an der Elektromobilität vorbeiführt. Hürden sehe ich in Form von historisch gewachsenen Anforderungen wie die Notwendigkeit, Fahrzeuge in Acht-Stunden-Schichten fahren zu können. Mit der aktuellen Technologie können wir Batterien in nur wenigen Minuten wieder aufladen, aber auch dafür ist etwas Umdenken nötig. In dieser Hinsicht müssen manche Anwender noch sensibilisiert werden. 

Von solchen Ladezyklen ist der Pkw-Bereich noch weit entfernt. Woher kommt dieser Unterschied? 

Die Anforderungen unterscheiden sich: Beim Pkw ist alles auf Reichweite ausgelegt, die Batterie muss also eine hohe Kapazität bieten. Im Nutzbereich ist hingegen eher hohe Leistungsfähigkeit gefragt. Schnelles Laden und Entladen ist unter diesen Umständen einfacher zu bewerkstelligen. Deshalb setzen wir bei ABB auf eine besondere Art von Batterien auf Basis von Lithiumtitanat. Im Pkw-Segment wäre diese Bauart keine Option, aber überall, wo regelmäßig schnell geladen werden muss, ist die Technologie ideal, denn sie bietet hohe Leistungsfähigkeit und schnelle Ladung bei langer Lebensdauer. 

Jonas Horstmann, Sales & Business Development Specialist für den Bereich Traction & Mobile e-Power bei ABB Motion.

„Die Elektrifizierung eines einzigen Minenfahrzeugs spart potenziell so viele CO2-Emissionen wie hunderte von Pkw mit Elektromotor.“

Jonas Horstmann, Sales & Business Development Specialist für den Bereich Traction & Mobile e-Power bei ABB Motion

Im Pkw-Markt sind die Stückzahlen viel größer. Lohnt sich die Elektrifizierung im Bereich schwerer Nutzfahrzeuge überhaupt, wenn die Lösungen so spezialisiert sein müssen? 

Der Markt ist vielfältiger und die Aufmerksamkeit für elektrische Lösungen geringer. Allerdings spart die Elektrifizierung eines einzigen Minenfahrzeugs potenziell so viele CO2-Emissionen wie hunderte von Pkw mit Elektromotor. Auch deshalb verdient das Thema mehr Aufmerksamkeit. 

 

Welche Bereiche deckt ABB konkret schon mit verfügbaren Lösungen ab? 

Am greifbarsten sind Busse und ähnliche Beförderungsmittel. Hierfür gibt es bereits zahlreiche Lösungen und einen prosperierenden Markt – mit unterschiedlichen Ansätzen: batteriebetriebene Elektrobusse, die möglichst weite Strecken fahren und nachts oder in der Mittagspause laden, und Fahrzeuge mit Schnellladeoption über Pantografen, durch die innerhalb weniger Minuten die Batterie wieder geladen wird. Auch Oberleitungen in Kombination mit Batterien sind eine gängige Option, wenn einzelne feste Strecken von vielen Buslinien regelmäßig abgefahren werden. 

Die Elektrifizierung im Bergbau geht inzwischen zügig voran, weil die dort gängigen Diesel-Trucks ohnehin bereits Elektromotoren an Bord haben: Hier spricht man von dieselelektrischen Antrieben. Viele der Komponenten, die für die volle Elektrifizierung benötigt werden, sind also bereits vorhanden. Typische Optionen sind hier ein kleinerer Dieselmotor im Hybridbetrieb mit Batterie oder der vollständige Austausch durch Batterie, Brennstoffzelle oder Oberleitungsversorgung. 

Bei Landwirtschaft und Baufahrzeugen sehen wir noch größere Herausforderungen: Die bereits erwähnten Wanderbaustellen erfordern hohe Flexibilität, auch landwirtschaftlich bestellte Felder eignen sich eher selten für die Installation einer Ladesäule. Neben batterieelektrischen Fahrzeugen mit hoher Kapazität, die über Nacht geladen werden, können hier hybride Ansätze eine Lösung darstellen. 

Elektro-Nutzfahrzeug mit ABB Techn

Viele Baustellen wandern. Zur Elektrifizierung sind batterieelektrische Baufahrzeuge wie Radlader deshalb für viele Aufgaben die erste Wahl.

Auch im Materialumschlag gibt es Potentiale zur Dekarbonisierung. Mobilkrane und fahrerlose Transportsysteme sind nur zwei Beispiele für Anwendungen, in denen der Einsatz batterieelektrischer Antriebssysteme sinnvoll ist. 

Ein großer Wachstumsmarkt ist die Schifffahrt. Besonders Schiffe, die kurze Strecken zurücklegen, können sehr gut mit Schwerlastbatterien ausgestattet werden, die hohe Leistungen auf kurzen Strecken bieten und lokale Emissionen komplett vermeiden. Beispiele hierfür sind Fähren oder Schleppboote im Hafen, die ABB bereits in zahlreichen Ländern elektrifiziert hat. 

Selbst bei eher stationären Fahrzeugen wie Seilbahnen schreitet die Entwicklung voran. Auch hier bieten Schwerlastbatterien Vorteile. Bei Seilbahnen mit zwei großen Gondeln wird ab dem Moment, in dem sich beide Gondeln in der Wegmitte treffen, sehr hohe Bremsenergie benötigt, um zu verhindern, dass durch das Gewicht des herunterziehenden Stahlseils plus Gondel zu viel Beschleunigung entsteht. Statt das mit konventionellen Bremsen zu bewerkstelligen, kann die Bremsleistung mit einer Batterie rekuperiert und für die nächste Anfahrt genutzt werden. So ergeben sich Energieeinsparungen von rund zehn Prozent. Ergänzt man die Bahn mit einer PV-Anlage mit Batteriespeicher, ergeben sich noch größere Vorteile – übrigens nicht nur für den bloßen Verbrauch, sondern auch für die Auslegung des Netzanschlusses. Können die Spitzen beim Beschleunigen und Abbremsen aus einem Batteriespeicher abgedeckt werden, kann der Netzanschluss kleiner ausfallen, was die laufenden Kosten für den Netzbetrieb reduziert. 

Seilbahn mit ABB-Technik

Seilbahnen werden elektrisch angetrieben. Intelligente Technik kann ihren Verbrauch erheblich reduzieren.

Wie bewerten Sie die Bedeutung von Brennstoffzellen für die Elektrifizierung? 

Auch für Brennstoffzellen sehen wir über alle Branchen hinweg mobile Anwendungsfälle, ebenso wie in stationären Kraftwerken. Besonders wenn konstante Leistungen gefragt sind, eignen sich Brennstoffzellen sehr gut, um den Bedarf zu decken. Um auch auf schnelle Lastschwankungen reagieren zu können, werden Brennstoffzellen mit einem leistungsfähigen Energiespeicher kombiniert. In sämtlichen Branchen entdecken viele Akteure aktuell all diese Möglichkeiten. Welche Technologie sich als die dominierende durchsetzen wird, ist in vielen Bereichen noch nicht entschieden. 

„In den meisten Branchen ist ein Retrofit die erste Option.“

Heißt das, für die Elektrifizierung müssen Betreiber in neue Anlagen investieren? 

Auf keinen Fall! In den meisten Branchen ist ein Retrofit die erste Option. Minenfahrzeuge sind dafür ein sehr gutes Beispiel: Ihr Chassis ist sehr robust und auf viele Jahre Lebensdauer ausgelegt. In diesem Bereich haben wir schon einige Projekte durchgeführt, bei denen im Rahmen einer Generalüberholung der Dieselmotor durch einen elektrischen Antrieb ersetzt wurde. Gemeinsam mit unseren Kunden prüfen wir immer genau, wie die Komponenten von der Batterie über den Elektromotor bis hin zum Frequenzumrichter in den gegebenen Stauraum passen, der vorher von Dieselmotor und Tank ausgefüllt wurde. Das ist eine Herausforderung, der wir uns jedes Mal gerne annehmen. Denn so werden weniger CO2-Emissionen verursacht und Ressourcen gespart. 

Sehen Sie andererseits die Gefahr, dass der Verbrauch durch den Gedanken aus dem Blick gerät, dass die nötige Energie durch die Elektrifizierung ja ohnehin „grün“ wird? 

Der Verbrauch bekommt zumindest oft immer noch nicht die Aufmerksamkeit, die er verdient. Ich sehe zwei Aspekte. Erstens: Wer weniger Energie verbraucht, kommt mit derselben Batteriekapazität weiter. Zweitens: Um die Dekarbonisierung der Industrie zu erreichen, ist höchste Energieeffizienz unverzichtbar. Wir müssen deshalb alle Bereiche auf Möglichkeiten überprüfen, den Verbrauch zu senken. Um darauf aufmerksam zu machen, hat ABB die Energieeffizienz-Initiative ins Leben gerufen. 

Bei der Elektrifizierung schwerer Nutzfahrzeuge zeigt sich diese Ambition in allen Bereichen. Die eingangs erwähnten Lithiumtitanat-Batterien erzeugen durch einen geringen Innenwiderstand beispielsweise weniger Verluste in der Batterie selbst. Auch die eingesetzten Frequenzumrichter entwickeln wir kontinuierlich weiter. Unser neu entwickelter Drei-Level-Umrichter für Baufahrzeuge, Elektrobusse und weitere Anwendungen reduziert die Verluste durch harmonische Oberschwingungen im Elektromotor sehr effektiv, nämlich um bis zu 75 Prozent. Das erhöht die Effizienz des Motors erheblich und führt außerdem dazu, dass der gleiche Motor mit einer höheren Leistung betrieben werden kann. 

Lassen Sie uns zum Abschluss in die Zukunft blicken: Wird die Elektrifizierung der Industrie 2050 erledigt sein? 

Ich glaube, wir werden in diesem Zeitraum in allen Bereichen der Industrie noch sehr viele Fortschritte machen. In der Zukunft werden sich immer neue Projekte ergeben, die wir heute noch gar nicht absehen können: bei der Energieeffizienz, aber auch bei der Ressourcenschonung in Fertigung und Betrieb. 

Um den Umfang der Möglichkeiten zu erkennen, lohnt sich der Blick in die andere Richtung: Viele Entwicklungen, die wir heute als selbstverständlich sehen, waren vor 30 Jahren noch gar nicht vorhersehbar. Deshalb ist es uns wichtig, dass wir Entwicklungen nicht nur vorantreiben, sondern auch frühzeitig erkennen und bewerten können. Was Batterien angeht, überprüfen wir daher in unserem Forschungszentrum in der Schweiz neue Zellchemien auf ihre Eigenschaften. So können wir schnell die Technologien identifizieren, die uns beim Einsatz in Fahrzeugen wirklich weiterbringen. In diesem Sinne bin ich für Technologieoffenheit – mit dem gebotenen kritischen Blick und einer eigenständigen Bewertung. 

Jetzt mehr erfahren: Energy Efficency Movement